13.02.2013 Views

Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society

Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society

Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society

SHOW MORE
SHOW LESS

You also want an ePaper? Increase the reach of your titles

YUMPU automatically turns print PDFs into web optimized ePapers that Google loves.

zustandekommt. Der Pyrrhoneer ist gegenüber dieser an<br />

malia ratlos, und deswegen gelangt er dahin „zu<br />

untersuchen, was wahr ist in den Dingen und was falsch,<br />

um durch die Entscheidung dieser Frage Ruhe zu finden.“<br />

Er wird die Erfahrung machen, sich außerstande zu sehen,<br />

die Frage in einem oder dem anderen Sinne zu<br />

entscheiden, was er Urteilsenthaltung nennt. Aber die<br />

Pointe ist: Wird man von den Dingen nicht beunruhigt, so<br />

ist für einen Pyrrhoneer auch kein Grund vorhanden, um<br />

eine Untersuchung anzustellen. Wie universal der Umfang<br />

der Urteilsenthaltung eines Pyrrhoneers ist, wird durch<br />

seinen psychischen Zustand (seine Wahrnehmung von<br />

an∩maliai in der Welt) bestimmt.<br />

— (ac) Die Berufung auf die Natur als Grundlage<br />

des menschlichen Denkens und Handelns. Fogelin ( 2 1987,<br />

S. 233) stellt folgendes fest: „In trying to decide whether<br />

unicorns exist, I might consult certain books. I do not,<br />

however, raise the prior question of whether books exist.<br />

All this points to a fundamental tenet of <strong>Wittgenstein</strong>’s later<br />

philosophy: our participation in language-games lies<br />

beyond justification; it is a brute fact of human nature.”<br />

(Meine Hervorhebung); Fogelin stützt sich dabei auf ÜG:<br />

Ich will den Menschen hier als Tier betrachten; als ein<br />

primitives Wesen, dem man zwar Instinkt, aber nicht<br />

Raisonnement zutraut. Als ein Wesen in einem<br />

primitiven Zustande. Denn welche Logik für ein<br />

primitives Verständigungsmittel genügt, deren brauchen<br />

wir uns nicht zu schämen. Die Sprache ist nicht aus<br />

einem Raisonnement hervorgegangen. (ÜG 475)<br />

In der Antike war die pyrrhonische Position von<br />

Anfang an den Vorwürfen ausgesetzt, daß sie das Leben<br />

unmöglich macht und sich außerdem in einen Widerspruch<br />

verwickelt. Was erwiderten die Pyrrhoneer auf diese<br />

Vorwürfe? In Sextus’ Adversus Mathematicos (= M) finden<br />

wir eine Antwort:<br />

Wenn sie das sagen, verstehen sie nicht, daß der<br />

Skeptiker zwar nicht im Einklang mit philosophischer<br />

Argumentation lebt (untätig ist er nämlich nur, insofern<br />

es darum geht), daß er aber nach der<br />

nichtphilosophischen Beobachtung das eine wählen und<br />

das andere meiden kann. (M 11.165)<br />

Er kann, so Sextus, ohne in einen Widerspruch<br />

verwickelt zu werden, das eine wählen und das andere<br />

meiden, weil er „aufgrund des Vorbegriffs im Einklang mit<br />

den väterlichen Gesetzen und Bräuchen“ handelt (M<br />

11.166). In anderen Worten: der Pyrrhoneer macht die<br />

Ebene des alltäglichen Lebens geltend, eine Ebene, auf<br />

der die Natur die Hauptrolle und die philosophische<br />

Argumentation, wenn überhaupt, eine untergeordnete<br />

Rolle spielt (s. P 1.23, 2.246; vgl. ÜG 347).<br />

Die zweite Gemeinsamkeit zwischen <strong>Wittgenstein</strong><br />

und dem alten Pyrrhonismus betrifft (b) die philosophische<br />

Methode. Es ist möglich, in der dialogischen<br />

Vorgehensweise der philosophischen Methode<br />

<strong>Wittgenstein</strong>s eine gewisse Verwandtschaft mit dem alten<br />

Pyrrhonismus festzustellen: Der sokratische Zug einer<br />

Darstellung widerstreitender Standpunkte, die zu einer<br />

Aporie führen, erinnert an die argumentative Strategie der<br />

Pyrrhoneer, die in der Darstellung einer diaph∩nia<br />

(Widerstreit) über den jeweils untersuchten Gegenstand<br />

bestand. Kann man zwar über Sokrates behaupten, daß<br />

bei ihm die philosophischen Probleme ungelöst bleiben,<br />

aber daß sie sich trotzdem nicht auflösen, weil er offen<br />

gegenüber einer weiteren Untersuchung derselben bleibt,<br />

so trifft dies für den Pyrrhoneer nicht zu. Bei ihm lösen sich<br />

die Probleme nach der Untersuchung auf, weil sich eine<br />

166<br />

<strong>Wittgenstein</strong> und Pyrrhonismus - Rosario La Sala<br />

gewisse Beruhigung, zumindest für eine bestimmte Zeit, in<br />

der Seele des Untersuchenden einstellt (P 1.26, 29). Hier<br />

ist also eine Ähnlichkeit mit <strong>Wittgenstein</strong> zu beobachten,<br />

zumindest wenn man Stellen wie die folgende betrachtet:<br />

„(Die besondere Beruhigung, welche eintritt, wenn wir<br />

einem Fall, den wir für einzigartig hielten, andere ähnliche<br />

Fälle an die Seite stellen können, tritt in unseren<br />

Untersuchungen immer wieder ein, wenn wir zeigen, dass<br />

ein Wort nicht nur eine Bedeutung (oder, nicht nur zwei)<br />

hat, sondern in fünf oder sechs verschiedenen<br />

(Bedeutungen) gebraucht wird.)“ (Big Typescript, § 89)<br />

2. Was <strong>Wittgenstein</strong> vom alten<br />

Pyrrhonismus unterscheidet<br />

(ii) Die oben erwähnte Einschränkung ‚zumindest für eine<br />

bestimmte Zeit‘ ist wichtig, denn Sextus beschreibt ganz<br />

genau (a) warum der Pyrrhoneer zu philosophieren<br />

beginnt, und (b) welche Art von Erfahrung er dabei macht,<br />

das heißt, warum eine Beruhigung (ataraxia) in der Seele<br />

des Untersuchenden eintritt.<br />

(a) Er fängt an zu philosophieren, weil ihn<br />

bestimmte Probleme beunruhigen, weil er eine an∩malia<br />

in den Dingen wahrnimmt (P 1.12). Am Ende der<br />

Untersuchung, und dank ihrer, lösen sich die Probleme auf<br />

und Beruhigung tritt ein, aber dies gilt nur, solange<br />

derjenige, der die Untersuchung angestellt hat, nicht mehr<br />

von denselben Problemen beunruhigt wird. Mit anderen<br />

Worten: Das Ergebnis der Untersuchung hat nicht die<br />

Kraft, die Probleme ein für alle Mal aufzulösen, es gibt<br />

keine Garantie dafür, daß der Untersuchende in Zukunft<br />

nie wieder eine an∩malia über dieselben Probleme<br />

wahrnehmen und von ihr beunruhigt sein wird (man kann<br />

ja nicht ausschließen, daß neue Elemente ins Spiel<br />

kommen). Dies ist schließlich auch der Grund, weswegen<br />

Sextus völlig kohärent in P 1.2-3 behaupten kann, daß die<br />

Pyrrhoneer, im Gegensatz zu allen anderen Philosophen,<br />

die einzigen sind, die weiterhin nach der Wahrheit<br />

(bestimmter Gegenstände) suchen.<br />

Der erste Zug bei einer pyrrhonischen<br />

Untersuchung ist in der Regel die Darstellung<br />

unterschiedlicher, gegeneinander streitender Stimmen<br />

(was Sextus diaph∩nia – ‚Widerstreit‘ – nennt (P 1.164-<br />

165), wobei der Streit verschiedene Definitionen von<br />

Begriffen oder verschiedene Thesen bzw. Theorien<br />

betrifft). (Die diaph∩nia ist allerdings nur eines von<br />

mehreren Argument-Schemata, die der Pyrrhoneer in<br />

seinen Untersuchungen anwenden kann.) Die Tatsache<br />

nun, daß eine diaph∩nia über einen bestimmten<br />

Untersuchungsgegenstand herrscht, reicht an sich nicht,<br />

um zu zeigen, daß die Probleme ungelöst sind (damit die<br />

Beruhigung eintreten kann). Es könnte der Fall sein, daß<br />

eine der Parteien recht hat, obwohl die anderen nicht<br />

bereit (oder nicht in der Lage) sind, dies anzuerkennen.<br />

(b) Sextus drückt sich sehr sorgfältig aus, wenn er<br />

angibt, warum der Pyrrhoneer zu einer Beruhigung<br />

gelangt; er sagt uns, worin eine Untersuchung besteht,<br />

und welche die Folgen für den Untersuchenden sind: „Die<br />

Skepsis ist die Fähigkeit, auf jede mögliche Weise<br />

erscheinende und gedachte Dinge einander<br />

entgegenzusetzen, von der aus wir wegen der<br />

Gleichgewichtigkeit (isostheneia) der entgegengesetzten<br />

Sachen und Argumente zuerst zur Urteilsenthaltung<br />

(epoch�), danach zur Seelenruhe (ataraxia) gelangen.” (P<br />

1.8) Eine Bedingung also, um zur Enthaltung des Urteils<br />

zu gelangen, ist, daß dem Untersuchenden die Argumente<br />

pro und contra eine bestimmte These gleichgewichtig

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!