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Preproceedings 2006 - Austrian Ludwig Wittgenstein Society

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Kulturelle Gegenstände und intentionale Erlebnisse<br />

Alessandro Salice, Graz, Austria and Torino, Italy<br />

1. Einleitung<br />

Selbst im vorphilosophischen Kontext begegnen wir täglich<br />

der Rede von „kulturellen Unterschieden“, von „kulturellen<br />

Merkmalen“ usw. Das Adjektiv „kulturell“ scheint ein<br />

Indexical zu sein. Damit beziehe ich mich auf den<br />

Anschein, dass Sätze, welche diesen Ausdruck enthalten,<br />

Gültigkeit nur innerhalb eines bestimmten – eben<br />

kulturellen – Kontextes beanspruchen können. Wenn man<br />

behauptet,<br />

(1) Die Symmetrie ist ein altgriechisches kulturelles<br />

Schönheitskriterium<br />

äußert man die Meinung, dass Symmetrie innerhalb<br />

des altgriechischen Kulturkreises bloß bzw. ein<br />

Schönheitskriterium spezifisch für diese Kultur ist. Was<br />

bezeichnet nun das Substantiv „Kultur“? Hat man es hier<br />

mit besonderen Gegenständlichkeiten zu tun? Was für<br />

eine Eigenschaft ist „Kulturbedingtheit“?<br />

Beginnen wir mit einer mir nötig erscheinenden<br />

Voranmerkung: „Kulturbedingtheit“ kann mindestens zwei<br />

verschiedene Bedingtheitsformen involvieren. Die erste<br />

Form sieht Kulturbedingtheit in Seinsgegenständlichkeiten,<br />

die zweite in Sollensgegenständlichkeiten gegeben.<br />

Demgemäß sind ein bestimmtes Sein oder ein besonderes<br />

Sollen bloß innerhalb einer bestimmten Kultur vorzufinden.<br />

Als Aufgabe stelle ich mich den „Seinsaspekt“ der<br />

kulturellen Welt zu erforschen. Es geht mir hier darum,<br />

wesentliche Merkmale von Kulturen, die Seinsmerkmale<br />

darstellen, zu beschreiben. Sprachphilosophisch bedeutet<br />

dies, dass ich nur derartige Aussagesätze über Kulturen<br />

zu erklären versuche, welche ausschließlich<br />

Seinsprädikate enthalten (ein Gegenstand X ist oder ist<br />

nicht durch eine Kultur Y bedingt). Um den Gegenstand<br />

der Untersuchung weiter zu präzisieren, klammere ich<br />

innerhalb der Seinsprädikationen alle werttheoretischen<br />

Aussagen wie z.B.<br />

(2) Die Monogamie ist ein kultureller Wert<br />

von der Erörterung aus.<br />

2. Die Erlebnisstruktur<br />

Die Frage nach der Kulturbedingtheit von Gegenständen<br />

setzt eine Erörterung der Intentionalität voraus. Obgleich<br />

auf einen ersten Blick diese Thematik keine Verbindung zu<br />

dem hier zu untersuchenden Problemhorizont aufzuweisen<br />

scheint, bin ich davon überzeugt, dass die oben gestellte<br />

Frage nur beantwortet werden kann, wenn vorgängig die<br />

intentionale Struktur von Akten geklärt ist.<br />

Wesensmerkmal intentionaler Akte ist die<br />

Gerichtetheit auf etwas: Ein Akt ist intentional, weil er stets<br />

auf etwas zielt. Ein introspektiver Blick auf sich selbst<br />

fördert eine Fülle verschiedener intentionaler Erlebnisse zu<br />

Tage: Ich stelle mir etwas vor, ich verspreche jemandem<br />

etwas... Die intentionalen Korrelate dieser Akte können in<br />

ihrer Verschiedenheit unter zwei Hauptkategorien rubriziert<br />

werden: Korrelate sind entweder Sachverhalte oder<br />

Gegenstände. (So sieht jedenfalls meine Bezugsontologie<br />

aus.) Wie nun strukturiert sich der intentionale Bezug?<br />

Eine der großen Leistungen der realistischen<br />

Phänomenologie besteht darin, eine präzise Beschreibung<br />

von Intentionalität geliefert zu haben, welche um den<br />

Begriff des psychischen Inhaltes bzw. der intentionalen<br />

Materie kreist. Diesen Begriff verwende ich in engem<br />

Anschluss an die Überlegungen Adolf Reinachs, benutze<br />

ihn jedoch rein systematisch und erhebe vor allem keinen<br />

Anspruch auf eine philosophie-historisch getreue<br />

Darstellung.<br />

Die Funktion des Inhaltes ist zwiespältig: Einerseits<br />

konstant bei jedem Akttyp vorhanden unterscheidet sie<br />

sich andrerseits je nach dem, zu welchem Akttyp der Inhalt<br />

gehört. Die konstante Rolle des Inhalts ist eine strukturelle<br />

und formale, denn sie wird von der Erlebnisstruktur<br />

verlangt. Sie sieht von einer näheren Charakterisierung<br />

des Aktes oder des gegenständlichen Aktkorrelates ab.<br />

Jeder intentionale Akt bezieht sich genau auf ein<br />

gegenständliches Korrelat. Für die Korrelate selbst<br />

eröffnet sich eine unendliche Vielfalt und Variation: Ein<br />

Korrelat kann bestehen oder nicht, es kann existieren<br />

(ideell oder real) oder nicht. Es ist immer dem Akt<br />

transzendent und ist kein konkreter Teil des Aktes. Die<br />

Rose, die man sich vorstellt, oder die Zahl, die man denkt,<br />

haben ganz eigentlich keinen Platz in einem Bewusstsein.<br />

Es muss aber etwas im Bewusstsein geben, das diesen<br />

Gegenständen entspricht, denn der Akt, der eine<br />

Gegenständlichkeit erfasst, unterscheidet sich von einem<br />

Akt desselben Typs, der eine andere Gegenständlichkeit<br />

erfasst. Da beide Akte dem Bewusstsein immanent sind,<br />

ist die Frage berechtigt, was beide Akte unterscheidet. Die<br />

zwei Gegenständlichkeiten selbst können die Akte nicht<br />

unterscheiden, denn beide sind sie als<br />

Gegenständlichkeiten dem Akt transzendent. Es muss also<br />

etwas geben, das im Akt liegt, Zugang zu den<br />

Gegenständlichkeiten verschafft und das den ersten von<br />

einem zweiten Akt absondert. Dieses Element nennen wir<br />

den „Inhalt“ eines Aktes. Mit „Inhalt“ ist nur ein<br />

struktureller, konkreter Erlebnisteil gemeint, der es dem<br />

Akt ermöglicht, genau diese Gegenständlichkeit intentional<br />

zu treffen.<br />

Formale und strukturelle Inhaltsfunktion<br />

vorausgesetzt skizziere ich nun die variable Rolle des<br />

Inhaltes an Hand dreier Akttypen: Vorstellen, Denken und<br />

Handeln. Dem Inhalt einer Vorstellung entspricht eine<br />

repräsentierende Rolle. Damit meine ich Folgendes: Ein<br />

Vorstellungsakt ist passiv und dient der Rezeption eines<br />

Gegenstandes. Obwohl sich der Gegenstand nie in ganzer<br />

Vollständigkeit präsentiert, weil er immer unter diesem<br />

oder jenem Aspekt abgeschattet ist, stellt man sich den<br />

gesamten Gegenstand vor. Das wird dadurch ermöglicht,<br />

dass der Vorstellungsinhalt eine gewisse<br />

Anschauungsfülle besitzt, welche den ganzen Gegenstand<br />

repräsentiert. Der Gegenstand ist intuitiv zwar nicht<br />

vollständig präsent, aber die Anschauungsfülle, welche der<br />

Vorstellungsinhalt mit einem bestimmten Grade<br />

notwendigerweise in sich trägt, repräsentiert auch die<br />

abgeschatteten Seiten des Gegenstandes. Vorsicht ist<br />

allerdings geboten, denn es ist darauf hinzuweisen, dass<br />

das, was ich hier als „Vorstellung“ beschrieben habe,<br />

keine begriffliche Vorstellung ist. „Begriffliche<br />

Vorstellungen“ (welche genau genommen gar keine<br />

Vorstellungen, sondern ein Sachverhaltserkennen sind)<br />

besitzt man immer dann, wenn man etwas als etwas<br />

erfasst. Ein derartiges Erfassen involviert immer einen<br />

Begriff und ist von komplexerer Natur.<br />

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