pdf (559 KB) - Mediaculture online
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vor leeren Sälen gesprochen haben und weniger häufig eingeladen werden als<br />
ich. Die Häufigkeit meines Sprechens beruht darauf, daß ich Balladen spreche!<br />
Die Ballade ist meiner Überzeugung nach das Sprechding in Versen. Ich habe<br />
bisweilen auch Lyrik dazwischen gesprochen. Ein lyrisches Gedicht vorzulesen<br />
dauert etwa eine viertel bis eine halbe Minute. Man kann in einer Stunde also 40<br />
bis 60 lyrische Gedichte vorlesen. So schnell kann der menschliche Geist sich<br />
nicht umstellen, und selbst wenn der liebe Gott anfinge, lyrische Gedichte<br />
vorzulesen, man würde sich dabei langweilen! Ebenso scheidet für das Sprechen<br />
aus der Roman. Ich halte es für ganz unmöglich, aus einem Kunstwerk Teile<br />
herauszubrechen, und möchte meinem verehrten Herrn Nachbar Georg Engel in<br />
dem, was er über den Roman gesagt hat, widersprechen. Es ist mir unerträglich<br />
gewesen, wenn z. B. Kapitel 1 bis 30 erzählt wurden, Kapitel 31 vorgelesen, 32,<br />
34 wieder halb erzählt und halb vorgelesen wurden. Ebensowenig kann man ein<br />
Epos vorlesen. Die balladische Dichtung dagegen steht mit einer Länge von fünf<br />
bis acht Minuten gerade da, wo wir sie brauchen. Die Ballade hat auch einen<br />
erlauchten Stammbaum des Vortrags, wenn wir annehmen, daß die Gesänge<br />
Homers und das deutsche Nibelungenlied ursprünglich aus einzelnen<br />
Heldenliedern bestanden. Den gleichen Stammbaum hat in Prosa die Novelle. Ich<br />
verweise hierbei auf das Dekameron von Boccaccio, der diese Geschichten von<br />
den aus Florenz geflohenen jungen Leuten erzählen läßt. Auch die Novelle hat an<br />
Länge das, was nötig ist, und sie hat noch etwas, das sie mit der Ballade<br />
verbindet: ein gutes lyrisches Gedicht, ein guter Roman können nämlich auch<br />
langweilig sein, aber bei der Ballade und Novelle ist Spannung immer ein<br />
künstlerischer Wert. Balladen und Novellen, die nicht spannend sind, sind<br />
schlecht und fallen unter den Tisch beim Vortrag. Ich habe viele Male die<br />
Erfahrung gemacht, daß die Spannung bei der mündlichen Wiedergabe etwas<br />
ungeheuer Wesentliches ist, und ich möchte deshalb glauben, daß alle<br />
Spekulation auf neue Formen eines Kunstwerkes für den Rundfunk hoffnungslos<br />
ist, wenn sie nicht diesen Gedanken aufnimmt.<br />
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