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Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation - Erfolgsfaktoren ...

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Die „Verwandlungen der Welt im 19. und 21. Jahrhundert“: Vier zentrale Arenen der <strong>Transformation</strong> 3.2<br />

Bedeutung von breit geteilten Narrativen für die Handlungsorientierung<br />

von Akteuren. Narrative reduzieren<br />

Komplexität, schaffen Orientierung für aktuelle und<br />

zukunftsorientierte Handlungsstrategien, sind Grundlage<br />

der Kooperation zwischen Akteuren und fördern<br />

Erwartungssicherheit. Das vorherrschende Narrativ der<br />

vergangenen zweihundert Jahre war über alle Wirtschaftssysteme<br />

hinweg ein Wohlstandsmodell, das auf<br />

der unbegrenzten Verfügbarkeit fossiler Energieträger<br />

und anderer Ressourcen basierte. Nun bedarf es <strong>eine</strong>r<br />

neuen Geschichte zur Weiterentwicklung der menschlichen<br />

Zivilisation sowie dessen, was unter „Modernisierung“<br />

und „Entwicklung“ verstanden wird. Das ist<br />

leichter gesagt als getan. Denn John Maynard Keynes<br />

(1883–1946) hat wohl richtig gelegen, als er vermutete:<br />

„Die Schwierigkeit ist nicht, neue Ideen zu finden,<br />

sondern den alten zu entkommen“.<br />

Ohne veränderte Narrative, Leitbilder oder Metaerzählungen,<br />

die die Zukunft von Wirtschaft und<br />

Gesellschaft neu beschreiben, kann es k<strong>eine</strong> gestaltete<br />

Große <strong>Transformation</strong> geben. Hiermit sind zwei wichtige<br />

Elemente der Gestaltung des Übergangs zur nachhaltigen<br />

Weltwirtschaft genannt (Pioniere des Wandels<br />

und Narrative), die später wieder aufgegriffen werden<br />

(Kap. 4, 5, 6).<br />

3.2<br />

Die „Verwandlungen der Welt im 19. und 21.<br />

Jahrhundert“: Vier zentrale Arenen der<br />

<strong>Transformation</strong><br />

Der Historiker Osterhammel (2009) beschreibt in s<strong>eine</strong>r<br />

1.500-seitigen Abhandlung über die „Verwandlung<br />

der Welt – Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts“<br />

die große <strong>Transformation</strong>, die zur industriellen Gesellschaft<br />

geführt hat. Dabei betrachtet er <strong>eine</strong>n Zeitraum<br />

von 1770 bis ins 20. Jahrhundert hinein. Statt von<br />

<strong>Transformation</strong> spricht er über die Phase des Umbruchs<br />

von den Agrar- zu den Industriegesellschaften, die er<br />

in den „fünf oder sechs Jahrzehnten um 1800 herum“<br />

beobachtet und als „Schwellenjahrzehnte“, „Epochenwandel“,<br />

„Sattelzeit“ oder „Wendezeit“ bezeichnet<br />

(Osterhammel, 2009). Interessant ist, dass die Charakteristika<br />

des Epochenwandels hier ähnlich wie bei<br />

Grin et al. (2010) beschrieben werden. Auch Osterhammel<br />

kommt zu dem Ergebnis, dass große Epochenwechsel,<br />

die zur „Verwandlung der Welt“ führen, mehrere<br />

Dekaden andauern. In diesen Phasen der „Übergänge“<br />

und „Zäsuren“ überlagern und verdichten sich ökonomische,<br />

kulturelle, soziale, aber auch ökologische Prozesse<br />

unterschiedlicher Tempi (Braudel, 1958) zu transformativen<br />

Dynamiken, beeinflusst durch <strong>eine</strong> Vielzahl<br />

von Akteursgruppen, die mit durchaus unterschiedlichen<br />

Intentionen letztlich <strong>eine</strong> spezifische Richtung des<br />

Wandels befördern (Osterhammel, 2009).<br />

In der Geschichte gibt es also k<strong>eine</strong> zeitlich eindeutig<br />

bestimmbaren Kipppunkte der Entwicklung, die <strong>eine</strong>n<br />

Epochenwechsel einläuten. Historische Schübe und<br />

umfassende <strong>Transformation</strong>en ergeben sich vielmehr<br />

durch „Häufigkeitsverdichtungen von Veränderungen.<br />

Diese können kontinuierlich oder diskontinuierlich verlaufen,<br />

additiv oder kumulativ, reversibel oder irreversibel,<br />

mit stetigem oder wechselndem Tempo“ (Osterhammel,<br />

2009). Erst in der Ex post-Betrachtung wird<br />

deutlich, ob ein epochaler Wandel, in diesem Fall von<br />

der Epoche der Agrargesellschaften hin zur Epoche der<br />

Industriegesellschaften (Kasten 3.2-1), stattgefunden<br />

hat.<br />

Die Nichtlinearität weitreichender gesellschaftlicher<br />

<strong>Transformation</strong>en zeigt sich insbesondere im Wechselspiel<br />

ideengeschichtlicher und realpolitischer Veränderungen.<br />

Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass große<br />

Ideen und neue gesellschaftliche Leitbilder beachtliche<br />

Zeit brauchen, um sich in großen Veränderungen<br />

in den Gesellschaften niederzuschlagen. John Locke<br />

(1632–1704) stritt seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts<br />

für Erkenntnis und Vernunft. René Descartes<br />

(1596–1650) begründete den französischen Rationalismus,<br />

auf den Voltaire (1694–1778) und Rousseau<br />

(1712–1778) aufbauten. Kant verfasste 1784 s<strong>eine</strong>n<br />

berühmten Aufsatz „Was ist Aufklärung“, in dem<br />

er den „Ausgang des Menschen aus s<strong>eine</strong>r selbstverschuldeten<br />

Unmündigkeit“ einforderte. Während die<br />

Aufklärer für Freiheit, Vernunft und „das Wohl des<br />

Menschengeschlechts“ eintraten und demokratische<br />

Gesellschaften „vordachten“, waren ihre Gesellschaften<br />

noch durch <strong>eine</strong> hier eher katholisch und dort eher<br />

evangelisch geprägte Gegenaufklärung dominiert und<br />

damit weit von den neuen Idealen der Aufklärung entfernt.<br />

Und auch die Aufklärer selbst blieben in Teilbereichen<br />

ihres Denkens erstaunlich lange der Tradition<br />

der Unfreiheit verpflichtet. Nur <strong>eine</strong> Minderheit der<br />

großen europäischen Aufklärer, zu der Adam Smith und<br />

Rousseau gehörten, protestierte gegen die von allen<br />

Kolonialmächten praktizierte Sklaverei und den transatlantischen<br />

Sklavenhandel, der in der zweiten Hälfte<br />

des 18. Jahrhunderts s<strong>eine</strong>n Höhepunkt erreichte. Zum<br />

„Menschengeschlecht“, für dessen Freiheit die Aufklärer<br />

eintraten, zählte zunächst nur ein Teil der Menschheit<br />

(Winkler, 2009; Kap. 3.5.1).<br />

Osterhammels Rekonstruktion der Verwandlung der<br />

Welt im 19. Jahrhundert verdeutlich darüber hinaus,<br />

dass vier Arenen der <strong>Transformation</strong> von übergeordneter<br />

Bedeutung für den Epochenwandel zur Industriegesellschaft<br />

waren. Diese Arenen der <strong>Transformation</strong><br />

des letzten großen Epochenwandels sind auch für die<br />

Große <strong>Transformation</strong> im 21. Jahrhundert von zentra-<br />

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