Migration und Gesundheit - BITV-Test
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<strong>Migration</strong> <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
Ges<strong>und</strong>heitsversorgung für Menschen mit <strong>Migration</strong>shintergr<strong>und</strong><br />
Menschen mit <strong>Migration</strong>shintergr<strong>und</strong> zeigen ein<br />
im Vergleich zu Deutschen unterschiedliches Inanspruchnahmeverhalten<br />
von Ges<strong>und</strong>heitsleistungen<br />
<strong>und</strong> -diensten. So nutzen sie, anders als<br />
deutsche Patientinnen <strong>und</strong> Patienten, häufiger<br />
Rettungsstellen statt Hausärzte als erste Anlaufdienste,<br />
die unterstützend genutzt werden könnten,<br />
stehen allerdings nach wie vor nur selten zur<br />
Verfügung – siehe Abschnitt 6.2.2 [8, 9, 10].<br />
6.1.3 Unterschiedliches Krankheitsverständnis<br />
Mängel der Inanspruchnahme einerseits sowie<br />
die Entwicklung von »Patientenkarrieren« andererseits<br />
gelten als »typische« Probleme in der ambulanten<br />
<strong>und</strong> stationären klinischen Versorgung<br />
von Menschen mit <strong>Migration</strong>shintergr<strong>und</strong> [1, 11].<br />
Diese Probleme sind nicht immer nur sprachlich<br />
bedingt. Das Verständnis von Ges<strong>und</strong>heit<br />
<strong>und</strong> Krankheit ist untrennbar mit der jeweiligen<br />
Kultur verb<strong>und</strong>en. In Deutschland ist die Ges<strong>und</strong>heitsversorgung<br />
vor allem auf ein naturwissenschaftlich<br />
f<strong>und</strong>iertes, medizinisches Wissen aufgebaut.<br />
Krankheits- bzw. Ges<strong>und</strong>heitskonzepte<br />
anderer Länder basieren häufig auf einem ganzheitlicheren<br />
Verständnis <strong>und</strong> sind eng mit religiösen<br />
Ansätzen verknüpft, welche im hiesigen<br />
Medizinsystem in der Regel auf Unverständnis<br />
stoßen [12, 13]. Ges<strong>und</strong>heitsprobleme werden z. B.<br />
als »Strafe Gottes« oder, wie im Mittelmeerraum<br />
verbreitet, als Folge des »bösen Blicks« gesehen.<br />
Die Präsentation <strong>und</strong> somit auch die Interpretation<br />
von Symptomen einer Erkrankung sind<br />
kulturell bedingt unterschiedlich. So wird beispielsweise<br />
die Wahrnehmung von Beschwerden<br />
bzw. Schmerzen von der ethnischen Herkunft<br />
beeinflusst, wie eine Studie in drei Notfallambulanzen<br />
in Berliner Stadtteilen mit hohem Anteil<br />
von Menschen mit <strong>Migration</strong>shintergr<strong>und</strong><br />
zeigte. In standardisierten Interviews gaben die<br />
befragten erwachsenen Patientinnen <strong>und</strong> Patienten<br />
mit <strong>Migration</strong>shintergr<strong>und</strong> höhere Werte<br />
für wahrgenommene Schmerzen an als deutsche<br />
Patientinnen <strong>und</strong> Patienten. Zudem konnten sie<br />
mehr Schmerzregionen benennen [14]. Eine unterschiedliche<br />
Präsentation oder Interpretation<br />
von Symptomen kann zu Missverständnissen<br />
<strong>und</strong> Fehlbehandlung führen. Sie beeinflusst dadurch<br />
sowohl das Inanspruchnahmeverhalten der<br />
Betroffenen als auch ihre Compliance, d. h. ihre<br />
Bereitschaft, an den Therapiemaßnahmen aktiv<br />
mitzuwirken [11, 15].<br />
Wenn Menschen mit <strong>Migration</strong>shintergr<strong>und</strong><br />
ihre Beschwerden nicht in der für das westliche<br />
medizinische Denken typischen Trennung von<br />
körperlichen <strong>und</strong> seelischen Problemen (Leib-<br />
Seele-Dichotomie) erleben, kann es zu Problemen<br />
bei der Interaktion mit Ärztinnen <strong>und</strong> Ärzten<br />
kommen. In der allgemeinmedizinischen<br />
Versorgung wird die deutlich höhere Schmerzbetonung<br />
der Beschwerden <strong>und</strong> Krankheitsbilder<br />
türkischer Patientinnen <strong>und</strong> Patienten oft<br />
sehr lange im »Einverständnis« zwischen Arzt<br />
<strong>und</strong> Patient symptombezogen mit Medikamenten<br />
behandelt [16, 17]. Eine eventuell indizierte<br />
psychosomatische Behandlung unterbleibt oder<br />
erfolgt erst in einem fortgeschrittenen Stadium<br />
der Chronifizierung [18]. Dieser diagnostischtherapeutische<br />
Prozess wird als »Einverständnis<br />
im Missverständnis« bezeichnet [19]. Das<br />
Missverständnis besteht hinsichtlich der Behandlungserwartungen<br />
<strong>und</strong> der Therapieoptionen.<br />
Beide Beteiligten sind überzeugt, dass der<br />
bzw. die jeweils andere nur eine Reduktion der<br />
Schmerzsymptome wünscht beziehungsweise<br />
leisten kann, aber nicht das Gespräch über die<br />
psychosozialen Hintergründe führen möchte.<br />
Bei einem entsprechenden psychosozialen Beratungs-<br />
<strong>und</strong> Therapieangebot sind jedoch sowohl<br />
die Behandlungserwartungen der Patientinnen<br />
<strong>und</strong> Patienten als auch die Behandlungsoptionen<br />
der primär zuständigen Ärztinnen <strong>und</strong> Ärzte<br />
leicht zu modifizieren [20, 21].<br />
Weil psychische <strong>und</strong> psychosomatische<br />
Beschwerden <strong>und</strong> Erkrankungen häufig als Begleitung<br />
anderer körperlicher Krankheiten diagnostiziert<br />
<strong>und</strong> behandelt werden, sind psychisch<br />
erkrankte Menschen mit <strong>Migration</strong>shintergr<strong>und</strong><br />
in der spezialisierten psychiatrischen <strong>und</strong> psychotherapeutischen<br />
Versorgung unterrepräsentiert.<br />
Auch in der stationären Psychiatrie sind sie bei<br />
leichteren (neurotischen) Erkrankungen unterrepräsentiert,<br />
hingegen bei psychotischen Erkrankungen<br />
<strong>und</strong> psychiatrischen Zwangseinweisungen<br />
überrepräsentiert [22].<br />
6.1.4 Unterschiedliches Nutzungsverhalten