Beiträge der Bezugswissenschaften zur Erwachsenenbildung
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Jörg R. Bergmann<br />
Flüchtigkeit und methodische Fixierung<br />
sozialer Wirklichkeit<br />
Aufzeichnungen als Daten <strong>der</strong> interpretativen Soziologie *<br />
31<br />
„Fernand Léger, <strong>der</strong> französische Maler und Filmemacher,<br />
träumte von einem Riesenfilm, <strong>der</strong> das<br />
Leben eines Mannes und einer Frau während vierundzwanzig<br />
Stunden genau registrieren sollte: ihre<br />
Arbeit, ihr Schweigen, ihre Intimität. Nichts wäre<br />
auszulassen; noch dürften die beiden Protagonisten<br />
jemals von <strong>der</strong> Anwesenheit <strong>der</strong> Kamera<br />
wissen. Léger war sich im klaren darüber, daß die<br />
Bil<strong>der</strong>, die er vor Augen hatte, schockierende Ansichten<br />
bieten müßten, weil sie den normalerweise<br />
verborgenen Wirbel kru<strong>der</strong> Existenz <strong>zur</strong> Schau<br />
stellen. ,Ich glaube‘, bemerkte er, ,dies wäre so<br />
schrecklich, daß die Leute entsetzt davon liefen<br />
und um Hilfe riefen, als sei eine Weltkatastrophe<br />
über sie hereingebrochen‘“ 1 .<br />
1.<br />
Seit Mitte <strong>der</strong> siebziger Jahre eine Reihe „interpretativer“ Forschungsansätze<br />
in <strong>der</strong> deutschsprachigen Soziologie Wurzeln zu schlagen begann, ist es<br />
in Erscheinungsbild, Stil und Praxis <strong>der</strong> empirischen Sozialforschung zu merklichen<br />
Verän<strong>der</strong>ungen gekommen. Forscher, die ins Feld ausschwirren, interessieren<br />
sich nicht mehr allein dafür, Interviewpartner für einen vorformulierten<br />
Fragebogen zu finden, son<strong>der</strong>n sind – oft mit <strong>der</strong> Begeisterung von Amateurornithologen<br />
– auf <strong>der</strong> Tonbandjagd nach ungestellten und scheinbar höchst<br />
banalen Alltagsgesprächen. Studenten mühen sich im Empiriepraktikum nicht<br />
mehr nur mit Problemen <strong>der</strong> Kodierung, <strong>der</strong> Itemanalyse und <strong>der</strong> Skalenkonstruktion,<br />
son<strong>der</strong>n verbringen immer häufiger Tage, ja ganze Wochen damit,<br />
ein einziges Gespräch minutiös vom Tonband zu transkribieren. Und wer heute<br />
durch ein soziologisches Institut wan<strong>der</strong>t, muß darauf gefaßt sein, daß manche<br />
<strong>der</strong> Arbeitsgruppen, die vor den Monitoren sitzen, nicht mit statistischer<br />
Datenauswertung beschäftigt sind, son<strong>der</strong>n Videoaufzeichnungen von sozialen<br />
Interaktionsabläufen in schier endloser Wie<strong>der</strong>holung auf dem Bildschirm<br />
betrachten.<br />
Es scheint fast so, als wären die neuen interpretativen Sozialforscher im Ernst<br />
angetreten, Légers Traum auf ihre Weise zu verwirklichen. Noch ist es keinem<br />
von ihnen gelungen, das Leben eines Paares o<strong>der</strong> einer Familie über<br />
einen vollen Tag hinweg kontinuierlich und unbemerkt in Bild und Ton festzuhalten;<br />
noch sind es nur die soziologischen Professionskollegen, die sich<br />
entsetzt abwenden und eine Katastrophe für das Fach hereinbrechen sehen