Beiträge der Bezugswissenschaften zur Erwachsenenbildung
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3. Kognitive Figuren autobiographischen Erzählens<br />
…<br />
Nun hat nicht jedes Erzählen im Alltag explizit autobiographischen Charakter<br />
(cf Ehlich (ed.) 1980). Wir erzählen einen Witz; o<strong>der</strong> wir beschreiben den<br />
Unfall, den wir vorgestern beobachtet haben. Wir lassen mit unserem Ehepartner<br />
den Tag „Revue passieren“. Wir erzählen unserem Analytiker den<br />
bedrückenden Traum <strong>der</strong> letzten Nacht. Dabei scheinen wir zunächst durchaus<br />
ohne eine lebensgeschichtliche Perspektive auszukommen. Bei näherem<br />
Hinsehen indessen wird transparent, daß jede Rekapitulation selbsterlebter<br />
Erfahrungen eine „autobiographische Tiefendimension“ besitzt (cf Schütze<br />
1984:82). Denn jede Erinnerung an ein Erlebnis o<strong>der</strong> Ereignis, das <strong>der</strong> Erzählsituation<br />
zwangsläufig vorhergehen muß, entspannt nicht nur einen engeren<br />
o<strong>der</strong> weiteren Zeithorizont, es bezieht sich auch auf Verän<strong>der</strong>ungen des<br />
„Selbst“ des Erzählers: Ein erinnernswertes Ereignis hat offensichtlich seine<br />
Spuren hinterlassen; es hat sich dem Erzähler eingeprägt und damit die Struktur<br />
seiner Erfahrungen – wie stark o<strong>der</strong> schwach auch immer – verän<strong>der</strong>t. „Jedes<br />
Stegreiferzählen eigenerlebter Erfahrungen ist auch das Wie<strong>der</strong>erinnern<br />
dieses mehr o<strong>der</strong> min<strong>der</strong> unmerklichen Verän<strong>der</strong>ungsprozesses“ (Schütze<br />
1984:82).<br />
Diese Beobachtung hat durchaus theoretische Bedeutung. Habermas weist<br />
im Kontext seiner ‚Theorie des kommunikativen Handelns‘ in einer beachtenswerten<br />
Randbemerkung auf mögliche Konsequenzen hin:<br />
„Die Erzählpraxis dient … nicht nur dem trivialen Verständigungsbedarf von<br />
Angehörigen, die ihre Zusammenarbeit koordinieren müssen; sie hat auch eine<br />
Funktion für das Selbstverständnis <strong>der</strong> Personen, die ihre Zugehörigkeit zu<br />
<strong>der</strong> Lebenswelt, <strong>der</strong> sie in ihrer aktuellen Rolle als Kommunikationsteilnehmer<br />
angehören, objektivieren müssen. Sie können nämlich eine persönliche<br />
Identität nur ausbilden, wenn sie erkennen, daß die Sequenz ihrer eigenen<br />
Handlungen eine narrativ darstellbare Lebensgeschichte bildet, und eine soziale<br />
Identität nur dann, wenn sie erkennen, daß sie über die Teilnahme an<br />
Interaktionen ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen aufrechterhalten und dabei<br />
in die narrativ darstellbare Geschichte von Kollektiven verstrickt sind“ (1981,<br />
II: 206).<br />
Habermas macht hier auf die weitreichenden Folgen aufmerksam, die ein<br />
Erzähler zu erwarten hat, wenn er das Erzählschema ratifiziert. Es erscheint<br />
allerdings nicht unmittelbar plausibel, daß dieser Prozeß vom Erzähler zwangsläufig<br />
auch „objektiviert“ werden müsse. Gerade die <strong>zur</strong> Ausbildung persönlicher<br />
Identität unverzichtbare Bedingung, daß die Abfolge biographischer<br />
Aktivitäten sich zu einer „Lebensgeschichte“ verdichtet, muß nicht notwendig<br />
„erkannt“, d.h. in jedem Fall bewußt nachvollzogen werden. Wenigstens<br />
ebenso einleuchtend ist die Hypothese, daß es sich dabei um eine Art „Basisregel“<br />
<strong>der</strong> Erfahrungsaufschichtung handelt, über die <strong>der</strong> Erzähler intuitiv<br />
verfügt.<br />
Fritz Schütze hat vier solcher Basisregeln aufgedeckt und sie als „kognitive