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Beiträge der Bezugswissenschaften zur Erwachsenenbildung

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zuschreiben, war das bäuerliche Tagebuch „annalistisch“ orientiert – auf die<br />

zyklischen Zeiten des Jahres bezogen, den Wechsel von Saat und Ernte,<br />

Sommer und Winter (cf Hoff-Droste 1981). Die „Geschichte“ beschrieb den<br />

Hof und die Haushaltsökonomie, nicht die Individuen. Soziale Integration und<br />

soziale Kontrolle waren durch die bäuerliche Lebenswelt gesichert, durch das<br />

Nebeneinan<strong>der</strong> von Mensch und Natur, Individuum und Gesellschaft.<br />

Mit einer Durchsetzung <strong>der</strong> kapitalistischen Arbeitsorganisation wird dieses<br />

Nebeneinan<strong>der</strong> zunehmend obsolet. Die naturwüchsige äußere Kontrolle nimmt<br />

ab. Integration ist nicht mehr selbstverständlich. An die Stelle tritt ein Verhaltensmuster,<br />

das Norbert Elias „Zwang <strong>zur</strong> Langsicht“ genannt hat (1980, II:<br />

336 ff). Und dieses Verhaltensmuster setzt nicht allein eine neue Form <strong>der</strong><br />

„Affektregulierung“ voraus (ebd. 338), es verlangt nach einer „Institution“, die<br />

sich rational mit den neu entstehenden Strukturen <strong>der</strong> Arbeitsorganisation und<br />

den komplementären Systemen öffentlicher Vorbereitung, Begleitung und Sicherung<br />

vermittelt. Diese „Institution“ ist <strong>der</strong> Lebenslauf, präziser: eine in ihren<br />

entscheidenden Ablaufphasen prognostizierbare und unumkehrbar „chronologisierte“<br />

Normalität des individuellen Lebens. Dazu gehört, daß man „gelernt“<br />

hat, bevor man erwerbstätig wird; daß man Geld verdient, bevor man<br />

heiratet; gewöhnlich auch, daß man erst heiratet, bevor man Kin<strong>der</strong> in die Welt<br />

setzt; ganz sicher aber: daß man gearbeitet haben muß, um Anspruch auf Rente<br />

zu erheben.<br />

Ironischerweise wird nun ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo <strong>der</strong> Lebenslauf<br />

auch wissenschaftlich als „Institution“ entdeckt wird, <strong>der</strong> institutionelle<br />

Charakter in verschiedener Hinsicht fragwürdig. Die scheinbar etablierten<br />

Phasen beginnen „auszufransen“: Kindheit und Jugend werden länger dank<br />

eskalieren<strong>der</strong> Lern- und Moratoriumszeiten; auch die Altersphase scheint sich<br />

auszuweiten. Und die Aktivitätsphase verliert schon deshalb an Bedeutung,<br />

weil sie durch neue Qualifikations- und Bildungsphasen, durch „Familienzeiten“<br />

und Arbeitslosigkeit unterbrochen wird. Gerade an Frauenbiographien,<br />

für die im übrigen die Institutionsthese niemals vollständig zutreffend war, läßt<br />

sich zeigen, daß <strong>der</strong> „Zwang <strong>zur</strong> Langsicht“ hochambivalent ist (cf Becker-<br />

Schmidt et al. 1982; Alheit/Dausien 1983). Vergleichbares gilt für die Lebensplanung<br />

jugendlicher Arbeitsloser (cf Alheit 1983 b) o<strong>der</strong> für die Subkultur alternativer<br />

„Aussteiger“ (cf E<strong>der</strong> 1983). Die Struktur des Lebenslaufs als Institution<br />

wird brüchig. Eine makrosoziologische Theorie auf diesem Abstraktionsniveau<br />

taugt als „Orientierungsparadigma“ nur bedingt. Sie öffnet zweifellos<br />

den Blick für die Historizität des gesellschaftlichen Konstrukts „Biographie“.<br />

Aber sie gibt nur begrenzten Aufschluß darüber, was Lebensläufe heute<br />

tatsächlich für konkrete Menschen bedeuten. Dies leisten nur aktuelle Lebensgeschichten.<br />

D.h., <strong>der</strong> Weg zu einem konsistenten „Biographie-Paradigma“ geht<br />

wohl über den konkreten Gegenstand: das erzählte Leben.<br />

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