Radikale Realpolitik - Rosa Luxemburg Stiftung
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starken. 25 Zugleich könnten Solidarität und der Umgang mit den unterschiedlichen<br />
Kulturen in Deutschland erlernt werden.<br />
Nach den großen Katastrophen der beiden Weltkriege, die die europäische Zivilisation<br />
faktisch zerstörten, durch den Kampf der Völker, eine erstarkende sozialistische<br />
und kommunistische Bewegung, erste Erfahrungen mit der wohlfahrtsstaatlichen<br />
Regulierung kapitalistischer Ökonomien wurden nach 1945 Institutionen<br />
geschaffen, die die Einheit von wirtschaftlicher und sozialer sowie demokratischparlamentarischer<br />
Entwicklung unter der Vorherrschaft liberaler Eliten sichern<br />
sollte. Dazu gehörten die Kapitalkontrolle, Regeln für Investitionen, feste Umtauschkurse,<br />
ein starker öffentlicher Sektor, eine strikte Arbeitsgesetzgebung. Seit<br />
den 1970er Jahren wurden diese Schutzdämme nach und nach geschleift und ein<br />
völlig neues institutionelles Gefüge geschaffen, dessen Eckpfeiler freie Wechselkurse,<br />
freier Welthandel und freier Kapitalverkehr, globale innerbetriebliche Arbeitsteilung,<br />
weitgehende Privatisierung, Schwächung der Verhandlungsmacht der<br />
Lohnarbeit durch Flexibilisierung, Teilzeitarbeit, Niedriglohnsektoren sowie Dominanz<br />
des kurzfristigen Shareholder-Values sind. Dies alles ist nun in einer sehr<br />
tiefen Krise. Die Frage ist, ob es bei Reparaturmaßnahmen dieses neuen Finanzmarkt-Kapitalismus<br />
bleibt oder ob Kräfte entstanden sind, grundlegende Veränderungen<br />
einzuleiten.<br />
Die Frage ist doch: Wenn die globale Finanzkrise zeigt, wohin die außer Rand<br />
und Band geratenen Spekulationen führen, wenn die Rohstoff- und Energiekonzerne<br />
enorme Gewinne machen und doch die Preise schnell hochtreiben, wieso<br />
dann nicht den Finanzmarkt-Kapitalismus zurückdrängen und Wirtschaftsdemokratie<br />
einführen?! Dann wäre auch die Verlagerung gewinnträchtiger Unternehmen<br />
ins Ausland nicht mehr ohne weiteres möglich. Wenn Privatisierung und Spaltung<br />
im Bildungs- und Gesundheitssystem so zerstörerisch wirken, wieso dann nicht<br />
den öffentlichen Sektor erneuern und ausbauen?! Wenn Teilzeit und Leiharbeit zu<br />
mehr Beschäftigung führen, die aber nicht existenzsichernd ist, warum dann nicht<br />
eine neue Vollbeschäftigung mit guten Löhnen und guter Arbeit?! Wenn die Umvertei<br />
lung von unten nach oben und von öffentlich zu privat am Ende dazu geführt<br />
hat, dass nun die öffentliche Hand und die Masse der Steuerzahler für die Verluste<br />
zur Kasse gebeten werden, während die Gewinne längst in Steueroasen geparkt<br />
sind, warum dann nicht die Umverteilung umkehren?! Wenn die neuen Kriege der<br />
USA, der NATO und der Europäischen Union nicht zu mehr Sicherheit, sondern<br />
zu mehr Unsicherheit, der Krieg gegen den Terror zu mehr Terrorismus, der Kampf<br />
der Kulturen zu mehr Unkultur geführt, sich die Rüstungsausgaben in den letzten<br />
acht Jahren weltweit verdoppelt haben, warum dann nicht endlich diesen Zyklus<br />
umkehren und das Konzept gemeinsamer Sicherheit durch solidarische Entwicklung,<br />
wie es am Ende des Kalten Krieges entstanden war, aktivieren?! Die Ausgaben<br />
für Rüstung allein würden reichen, jedem Menschen auf der Erde den Zugang<br />
25 Lisa Becker: Mehr Geld für Schulen bringt wenig. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. August 2008, S. 12.<br />
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