Radikale Realpolitik - Rosa Luxemburg Stiftung
Radikale Realpolitik - Rosa Luxemburg Stiftung
Radikale Realpolitik - Rosa Luxemburg Stiftung
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
ses. Ohne das hier im Einzelnen auszuführen, lässt sich doch festhalten, dass die<br />
Familie auch in der »ersten Periode der Erziehung« (Schleiermacher) das zu vermittelnde<br />
Nützliche nicht mehr bzw. nur noch unzureichend vermitteln kann. Das<br />
wirft die Frage auf, wie und durch welche Reformen das Bildungswesen an Funktion<br />
gewinnt, was die Familie verliert, und darum geht in der Tat eine der wichtigsten<br />
politischen Debatten in der gegenwärtigen Zeit. Die politischen Richtungen<br />
unterscheiden sich nicht dadurch, ob sie diese Debatte führen oder nicht, sondern<br />
darin, wie sie sie führen, welche Wege sie vorschlagen.<br />
In der gegenwärtigen politischen und sozialen Situation kommt allerdings, im<br />
Unterschied zu den 1960er Jahren, mehr zum Tragen, dass der Lebensplanung,<br />
dem geplanten Leben massenhaft der institutionelle Rückhalt entzogen wird, und<br />
dies zu einem Zeitpunkt, an dem die Individuen als zeitlich-endliche ihre Planung<br />
nicht mehr umstellen können. Daraus ergibt sich ein Streben nach Erhalt bzw. Restitution<br />
der alten institutionellen Bedingungen. Das ist ein großer Unterschied zu<br />
Forderungen, die sich aus Änderungen des Lebensstils ergeben, und das schlägt<br />
sich auch u. a. in unseren Wahlergebnissen nieder. So ist, wie die Hamburger<br />
Wahlanalyse ergab, unser durchschnittlicher Wähler über 45 Jahre alt, erwerbslos<br />
und männlich. Junge Wählerinnen und Wähler sind ebenso unterrepräsentiert wie<br />
junge Mitglieder in der Alterszusammensetzung der Partei.<br />
Das verweist auf eine tiefe Generationenspaltung – und auf eine große Herausforderung<br />
für die Entwicklung linker Programmatik und Politik.<br />
Die politische Bedeutung von Utopie im individuellen Leben liegt darin, dass<br />
die Person ihr Leben, das als soziales Leben Akkumulationsprozess im Sinne<br />
Bourdieus ist, mit Blick auf Änderungen ausrichtet, die in der Luft liegen, wie ich<br />
es für die 1960er Jahre kurz und an einem Beispiel angedeutet habe. Solche Änderungen<br />
liegen in der Luft, weil viele Individuen so handeln und dadurch eine latente<br />
Kraft schaffen, die sich, ist erst einmal eine kritische Größe erreicht, Bahn<br />
bricht.<br />
Ich glaube, dass es diese Diskrepanz zwischen dem gelebten Leben und den<br />
bereitstehenden Institutionen ist, die den Steuerungsanspruch der Institutionen und<br />
diese selbst delegitimiert. Sie führt unvermeidlich zu Widerspruch und Widerstand,<br />
die das Vorgegebene in Frage stellen und auf Änderung der »Regeln« drängen.<br />
Hier setzen politische Kritik und sozialistische Politik an. Politische Kritik kann<br />
diese Differenz zwischen dem gelebten Leben und den bereitstehenden Institutionen<br />
auffassen und deren Defekte konkret bestimmen. Dazu muss diese Kritik<br />
»real« sein, d. h. die Gegebenheiten – gemeint im strengen Sinn – auffassen. Nur<br />
dann kann sie den ihr Leben planenden Individuen etwas liefern, was diese allein<br />
nicht so ohne weiteres sehen können: Anhaltspunkte für einen Plan zum Umbau<br />
oder zur Neugestaltung der Institutionen, mit denen sie praktisch nicht mehr übereinstimmen.<br />
Hier ist ein weites Feld für linke Politik in den Kommunen und Bundesländern,<br />
vor allem in der Kritik, der Um- und Ausgestaltung der öffentlichen Güter, der so-<br />
67