Radikale Realpolitik - Rosa Luxemburg Stiftung
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sichts der jetzt wieder dringlicher werdenden Krisen kann eine derartige Zurückhaltung<br />
in Strategiedebatten aber nicht länger durchgehalten oder gar verantwortet<br />
werden. Das Fehlen einer inhaltlichen Strategiedebatte wird immer mehr zu einer<br />
Blockade von Möglichkeiten linker Initiativen angesichts sich häufender krisenhafter<br />
Entwicklungen. Außerdem kann so auch kein Raum für eine öffentliche Debatte<br />
aufgebaut werden, in der transformatorische Forderungen auch adressatengenau<br />
an die unterschiedlichen linken Parteiformationen gerichtet werden können.<br />
Denn ganz offensichtlich fehlt heute die eine Partei, welche der selbstverständliche<br />
– weil adäquate und hinreichende – Adressat derartiger Forderungen ist. Weit<br />
weniger offensichtlich ist aber die Frage, was das bedeutet. Es läge ja vielleicht<br />
nahe, die Auffassung zu vertreten, dass dies eine Ausnahmesituation sei – als eine<br />
Spätfolge der schweren Niederlagen des im Rückblick doch ziemlich dunklen<br />
20. Jahrhunderts. Auch wenn man einsehen kann, dass das nicht so einfach machbar<br />
wäre, wie sich das Ende der 1960er Jahre unterschiedliche »Parteiaufbau-Organisationen«<br />
vorgestellt haben – könnte man jedoch zu der Auffassung neigen,<br />
das Ziel müsste eine Parteiorganisation im Singular sein, die dann der selbstverständliche<br />
Adressat derartiger radikal transformatorischer Forderungen sein<br />
werde.<br />
Eine derartige Vorstellung von der künftigen »einen Partei« der linken Gesellschaftstransformation<br />
hat allerdings zumindest einige ungelöste Problempunkte<br />
aufzuweisen: Im Rückblick auf die historische Spaltung zwischen unterschiedlichen<br />
kommunistischen Strömungen und zuvor zwischen Kommunisten und Sozialdemokratie<br />
lässt sich diese Einheit entweder als endliche Durchsetzung der<br />
richtigen politischen Linie vorstellen – oder aber als eine umfassende Einheit über<br />
alle diese Differenzen hinweg. Beides kann ich mir nicht als ein realitätstüchtiges<br />
politisches Projekt vorstellen. Außerdem kann es ja wohl nicht nur darum gehen,<br />
zur alten männlich und produktivistisch geprägten Arbeiterbewegung der »imperialistischen<br />
Metropolen« zurückzukehren: Wenn aber auch die Bewegungen des<br />
Südens und die neueren sozialen Bewegungen mit einzubeziehen sind – was der<br />
Sache nach kaum bestritten werden kann –, dann läuft die Forderung nach »Einheit<br />
durch Klarheit« unmissverständlich auf eine Praxis der Sektenbildung hinaus,<br />
während der Gedanke einer allumfassenden Parteiorganisation bestenfalls auf eine<br />
Partei hinausläuft, die in etwa die Kohärenz und Konsistenz der US-Demokraten<br />
aufzubringen vermöchte Derartigen Vorstellungen gegenüber scheint es mir unter<br />
kontinentaleuropäischen Voraussetzungen eindeutig weit plausibler zu sein, eine<br />
Pluralität von konkurrierenden linken Parteien und durchaus konfliktuelle Bündnisse<br />
zwischen ihnen als eigenständigen politischen Kräften zu antizipieren – so<br />
sehr auch sowohl die kommunistische als auch die sozialdemokratische Tradition<br />
derart weit reichenden Pluralitätsgedanken entgegen stehen.<br />
Denn andererseits wird es auch nicht möglich sein, auf parteipolitische Organisationsformen<br />
einfach zu verzichten. Zwar ist es vermutlich wahr, was Anfang der<br />
1970er Jahre (unter Bezugnahme auf ein Marxwort) in Berlin eine ziemlich kurz-<br />
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