Radikale Realpolitik - Rosa Luxemburg Stiftung
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wert »Kulturen« in befreiten Gesellschaften haben können – als komplexe und relativ<br />
unbestimmte Regelkomplexe auf der einen Seite eines weiten Spektrums –,<br />
und inwiefern auch befreite Gesellschaften noch auf »Rechtssysteme« als hochgradig<br />
definite und zumeist auch noch durch Regeln zweiter Ordnung komplettierte<br />
Regelungszusammenhänge auf der anderen Seite dieses Spektrums zurückgreifen<br />
können und müssen.<br />
In den Kämpfen der neueren sozialen Bewegungen seit den 1960er Jahren, wie<br />
sie in den 1970er Jahren unter der Kategorie der »Zivilgesellschaft« artikuliert<br />
worden sind, geht es in dieser Perspektive ganz grundsätzlich um Zweierlei: um<br />
das Verhältnis von demokratischer Selbstorganisation zu den grundsätzlich herrschaftlich<br />
verselbständigten staatlichen Apparaten, einerseits – und andererseits<br />
um das Verhältnis von spontanen Initiativen zu institutionell verfasstem bzw. organisiertem<br />
Handeln. Dabei geht es darum, Identitäten und Interessen der Beteiligten<br />
auf eine Weise einzubringen, die – gerade in Übergangs- und Transformationsprozessen<br />
– weiterhin zum einen die eigenständige Sichtbarkeit spontaner Initiativen,<br />
die Anerkennung der »Autorschaft« der sie initiierenden Subjekte und den Respekt<br />
vor den dabei aktiven Menschen, und zum anderen die materielle Teilhabe<br />
einzelner Menschen oder Menschengruppen sowohl in privaten wie in öffentlichen<br />
Reproduktionszusammenhängen gewährleisten können. Damit tritt neben die weiterhin<br />
zu untersuchenden Herrschaftseffekte der »ideologischen Staatsapparate«<br />
immer wieder die Frage nach dem Aufbau gemeinsamer Handlungsfähigkeit durch<br />
Organisierung bzw. durch bestimmte Formen der Institutionalisierung.<br />
Gerade ein transformatorisches, strategisches Handeln wirft in dieser Perspektive<br />
vor allem die Frage auf, wie erreicht werden kann, dass die zu seiner Durchsetzung<br />
erforderliche, Institutionen »konstituierende Gewalt« sich nicht irreversibel<br />
gegenüber den demokratischen Akteuren verselbständigt – und dann aber<br />
ebenso unvermeidlich auch die Frage nach der Funktionsweise transformatorischer<br />
Organisationen als »Transmissionsriemen« eines gemeinsam verfolgten Transformationsprojektes.<br />
Das schließt die Frage mit ein, wie in derartigen Projekten mit<br />
sog. »Nebenwidersprüchen« umgegangen werden kann, wie sie für die Handlungsperspektiven<br />
einzelner Bündnispartner von zentraler Bedeutung sind – bzw.<br />
was deren relative Autonomien unter institutionalisierten Bedingungen für die einzelnen<br />
Bündnispartner bedeuten kann. Damit stehen wir vor dem Problem, wie<br />
überhaupt die Erreichung der Kohärenz der unterschiedlichen Handlungsbeiträge<br />
und -stränge konzipiert und umgesetzt werden kann.<br />
Dabei ist die Devise »Nicht nach Köpfen, sondern nach Interessen organisieren!«<br />
(Negt) aus der Spätphase der antiautoritären Bewegung durchaus zumindest<br />
ein kleines Stück weit erhellend: Sie trifft genau den kitzligen Punkt – die spezifische<br />
Stärke ebenso wie die eigentümliche Schwäche der Staats-Politik: Ihre exzessive<br />
Universalisierung und Totalisierung – in der über den Geltungsanspruch<br />
der von ihr beanspruchten Regeln hinausgehend ihre Verselbständigung gegenüber<br />
den gesellschaftlichen Machtquellen zum Ausdruck kommt.<br />
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