Radikale Realpolitik - Rosa Luxemburg Stiftung
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Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger erreichbar ist, die im erreichten und fortschreitenden<br />
Produktivitäts- und Bildungsstand, im Pluralismus und – wie immer<br />
auch reduziertem – Rechtsstaat, in Individualisierungsprozessen, offenen Grenzen,<br />
Begegnungen der Kulturen, Fortschritten der Geschlechtergleichstellung, in<br />
Selbstverantwortung und ähnlichen in langen Kämpfen errungenen Prozessen<br />
Chancen für eigene Lebensentwürfe sieht.<br />
Zorn geißelt – und tut dies zu recht gegen soziale Ausgrenzung, Kinderarmut,<br />
geschlossene Grenzen, Ausplünderung der Bevölkerung des »Südens«, Hungertod<br />
und Elend, Kriege und Naturverstörung. Aber Zorn argumentiert in der Regel<br />
nicht. Er mag wichtigen Teilen der Bevölkerung aus der Seele gesprochen sein.<br />
Andere Milieus wird eine Reduktion allein auf die Sprache des Zorns von der Linken<br />
abschrecken.<br />
Die Sprache der Linken bedarf des Brückenschlags zwischen Anklage der Übel<br />
und Anerkennung des Entwicklungsfähigen in den gegenwärtigen Verhältnissen.<br />
Sie muss in die verschiedenen Lebenslagen einer ausdifferenzierten Gesellschaft<br />
hineinreichen, um mit dem Habitus unterschiedlicher Milieus umgehen zu können.<br />
Eine solche Spannweite in der Sprache der Politik wird allerdings nur dann<br />
glaubwürdig sein, wenn sie der Kunst der Politik entspricht, in Konflikten, die<br />
ganz unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen betreffen, das verbindende Gemeinsame<br />
herauszufinden.<br />
Ich möchte die drei angedeuteten Thesen exemplarisch auf den Umgang mit der<br />
vielleicht größten Herausforderung des 21. Jahrhunderts, der Abwendung einer<br />
Klimakatastrophe, beziehen.<br />
Die Rettung vor einer Klimakatastrophe läuft darauf hinaus, die Menschheit vor<br />
der Zerstörung wesentlicher Teile ihrer natürlichen Existenzbedingungen zu bewahren.<br />
Niemals zuvor in der Geschichte musste eine derart globale und derart<br />
komplexe Aufgabe in derart kurzer Zeit mit derart weitreichenden und vernichtenden<br />
Folgen im Falle ihres Scheiterns gelöst werden.<br />
4. These<br />
Die Handlungsbedingungen für eine alternative Klimapolitik sind jedoch durch einen<br />
tiefen Widerspruch gekennzeichnet. Nach Expertenerwartungen muss ein radikaler<br />
Einstieg in eine solare Energierevolution als Kernstück eines sozial-ökologischen<br />
Umbaus der Gesellschaft innerhalb eines extrem kurzen Zeitfensters von<br />
ein bis anderthalb Dekaden vollzogen werden. Aber in diesem Zeitraum werden<br />
die kapitalistischen Eigentums- und Machtverhältnisse, in denen die Ursachen der<br />
Erderwärmung in erheblichem Maße wurzeln, nicht überwunden, die Armut in<br />
großen Teilen der Erde bestenfalls vermindert und die heutigen Lebensweisen in<br />
der westlichen Welt noch tief verankert sein. Harald Welzer schließt daraus in sei-<br />
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