Radikale Realpolitik - Rosa Luxemburg Stiftung
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keiten eines solchen Beitrags, Komplexitätsreduktion und Beschränkung unumgänglich.<br />
Wissen wir, was wir tun? Und tun wir, was wir wollen?<br />
Ausgehend von den Stichworten »Bewusstsein« und »Reflexion« will ich mich<br />
meinem Problem widmen: Wissen wir denn wirklich aktuell, was wir tun?<br />
Insbesondere die kommunistische Linke oder jedenfalls die in ihrer Traditionslinie<br />
beziehungsweise ihrem Erbe stehende Linke (aber bei Weitem nicht nur sie!)<br />
hätte angesichts der von ihrem Handeln erzeugten Wirkungen im 20. Jahrhundert<br />
allen Grund zur Skepsis gegenüber ihrer eigenen Fähigkeit zur Einsicht in den<br />
Gang der Geschichte. Das gilt umso mehr, als die Welt sich heute, 105 Jahre nach<br />
dem Abdruck des hier als Ausgangspunkt dienenden Textes <strong>Rosa</strong>s, wesentlich<br />
komplexer und zugleich unübersichtlicher darstellt und die Zukunftsaussichten der<br />
menschlichen Gattung sich weit weniger optimistisch ausnehmen. Angesichts der<br />
historischen Erfahrung des abgelaufenen 20. Jahrhunderts sowie angesichts der realen<br />
Zerstörungspotentiale und -prozesse, die die Menschheit in dieser Frist schuf<br />
und in Gang gesetzt hat, fällt es heute deutlich schwerer, gelassen »die Mähnen« 3<br />
zu schütteln und sich der »Gesetzmäßigkeit der objektiven historischen Entwicklung«,<br />
die eine »feste Bürgschaft des schließlichen Sieges« birgt, gewiss zu sein.<br />
Doch nicht nur das. Entgegen so mancher simplifizierenden Annahme auch aus<br />
den Reihen der Partei DIE LINKE, die nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus<br />
und dem damit verbundenen Wegfall der Systemkonkurrenz nur das erneute<br />
Aufleben des Kapitalismus in seiner wahren und ursprünglichen Gestalt sehen,<br />
verhält es sich mit dem Erkennen der »Richtung des ökonomischen und<br />
politischen Prozesses in der heutigen Gesellschaft«, an dem wir nicht nur »unseren<br />
Feldzugsplan in seinen großen Linien, sondern auch jedes Detail unseres politischen<br />
Strebens messen können« 4 wesentlich komplizierter. Das Labyrinth, durch<br />
das uns der Ariadnefaden der Marxschen Lehre führen soll, ist nicht nur wesentlich<br />
verzwickter, als es für <strong>Rosa</strong> seinerzeit den Anschein hatte. Vielmehr ist das<br />
Labyrinth selbst in Bewegung und verändert seine Form. Und wo es gestern noch<br />
einen, wenn schon nicht Aus-, so doch wenigstens, Durchgang zu geben schien,<br />
landen wir heute in einer Sackgasse. Einmal angebrachte Wegmarken müssen auf<br />
ihre Tauglichkeit überprüft werden, und auch die frühere Prophezeiung, dass es<br />
einen Tag geben wird, an dem wir aus diesem Labyrinth plötzlich hervor- und in<br />
neue bessere Welt eintreten werden, ist mehr als ungewiss geworden.<br />
Wir verfügen über die Erfahrung der enormen Wandlungs- und Innovationsfähigkeit<br />
des Gesellschaftssystems, und wir wissen, dass kapitalistische Reproduk-<br />
3 Dieses und die beiden folgenden Zitate in: <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong>, a. a. O., S. 372.<br />
4 Ebenda, S. 373.<br />
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