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Radikale Realpolitik - Rosa Luxemburg Stiftung

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Beispiel des Bildungswesens zeigen lässt. Anders als früher schließt es niemanden<br />

mehr qua sozialer Herkunft aus, aber es trifft mit seinen spezifischen Ausschlussmechanismen<br />

mit brutaler Härte eine soziale Auslese, die der Einzelne als geradezu<br />

schicksalhaft erfährt.<br />

Die gesellschaftlichen Institutionen und Praktiken sind Ergebnis gesellschaftlicher<br />

Praxis und sie strukturieren gesellschaftliche Praxis.<br />

Wie aber ist dieser Zirkel zu durchbrechen? Wie kann, anders gesprochen, die<br />

Spinne die Regeln verändern, nach denen sie das Netz baut, das ihren Aktionsradius<br />

bestimmt?<br />

Lebensplanung, um wieder oben anzuschließen, taucht erst in der modernen<br />

Gesellschaft als allgemeines Phänomen auf. Sie stellt sich dar als Folge von Wahlentscheidungen<br />

des Individuums auf der Grundlage institutioneller »Vorgaben«,<br />

also als relative, durch die gesellschaftlichen Institutionen gesteuerte Freiheit. 6<br />

Wichtiges Element ist z. B. die freie Wahl des Partners, eine kulturelle Praxis, die<br />

noch einmal deutlich jünger ist als die auch nicht besonders alte Institution der<br />

bürgerlichen Ehe. Ein anderes die Ausgestaltung des Bildungsweges durch eigene<br />

Entscheidungen – dabei gesteuert durch das Bildungssystem –, die mit der Freiheit<br />

der Berufswahl zusammenhängt.<br />

Bereits im engen Horizont der Lebensplanung finden sich Begriffe und Probleme<br />

wieder, um die es bei der politischen Willensbildung geht. Lebensplanung<br />

enthält politische Urteile. Sie setzt Stabilität oder Änderung von Institutionen voraus,<br />

sie will mithin auch etwas Politisches.<br />

Eine Lebensplanung, die auf Änderung von Institutionen setzt, nimmt solche<br />

Änderungen bis zu einem gewissen Grad vorweg. Es kommt zu einer Spannung<br />

zwischen dem Leben und den Institutionen. So war es in der Zeit der Veränderungen<br />

in den Sechzigern, einer Zeit, in der in der BRD die bis dahin nahezu unüberwindbar<br />

scheinende christlich-konservative Mehrheit gebrochen wurde. Eine<br />

Bedingung war die Erschütterung der Institution Familie, die ihre Funktion als<br />

Produktionsgenossenschaft verlor und die Lebensplanung der Individuen auf hergebrachte<br />

Weise nicht mehr steuern konnte. Gleichzeitig gab es einen enormen<br />

Schub bei der Erwerbstätigkeit von Frauen außerhalb von Kleingewerbe und Landwirtschaft.<br />

Diese – und weitere – Veränderungen schlugen sich in der Lebenspraxis<br />

und Lebensplanung massenhaft nieder. Die Auffassung: So nicht, so nicht weiter!<br />

ergriff große Teile der Gesellschaft weit über die rebellierende Jugend hinaus<br />

und führte zu gravierenden Änderungen in Partnerschaft, Ehe und Familie. Diese<br />

wiederum führten einige Zeit später, 1976, u. a. schließlich zu einer Liberalisierung<br />

der Ehe- bzw. Scheidungsgesetzgebung.<br />

Bemerkt werden soll in diesem Zusammenhang, dass die Familie gegenwärtig<br />

einen weiteren Funktionsverlust erfährt, nämlich bei der Bildung des Nachwuch-<br />

6 Diesem Widerspruch ging schon Durkheim nach: »Wie geht es zu, dass das Individuum, obgleich es immer autonomer<br />

wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt?« Emile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung. Frankfurt<br />

1999, S. 83.<br />

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