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Radikale Realpolitik - Rosa Luxemburg Stiftung

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immer seine unbestritten wichtige Funktion. Ein Problem entsteht dabei jedoch für<br />

die eigene Politik. Sie beansprucht ihre Legitimation durch die Schau einer Idee,<br />

die eben nicht alle schauen, wie Platons Höhlengleichnis 1 klassisch ausführt, und<br />

sie beinhaltet damit einen kaum hinterfragbaren Führungs- und Herrschaftsanspruch.<br />

Ganz abgesehen davon, dass die Götter dazu neigen, uns Menschen auch<br />

mal einen »täuschenden Traum« 2 zu schicken, die uns Möglichkeiten suggerieren,<br />

deren Verfolgung zum Scheitern führt.<br />

Die reale Entwicklung gibt aber Anlass, diese grundlegend kritische Position<br />

gegenüber Utopien zu überdenken, oder aus anderer Sicht: ihre Bedeutung neu zu<br />

definieren. Denn Einiges hat sich erheblich geändert.<br />

Zum einen hat der Verlust von Gewissheiten in Folge des Zusammenbruchs des<br />

realen Sozialismus dem hergebrachten Führungs- und Herrschaftsanspruch sozialistisch/kommunistischer<br />

Parteien einen herben Schlag versetzt. Ich meine damit<br />

erstens und insbesondere den Verlust der Gewissheit, dass sich alle Entwicklung<br />

hin auf ein Ziel bewegt. In der Linken hatte diese Vorstellung die Form angenommen,<br />

dass Geschichte letztlich als Entfaltung des Fortschritts zu verstehen ist. Insofern<br />

hatte sie sich für die Zukunft auf der »sicheren Seite« gesehen und höchstens<br />

noch vor dem Rückfall in die »Barbarei« gewarnt.<br />

Die zweite Gewissheit, von der man sich verabschieden musste, war die Idee<br />

der Machbarkeit der Welt, das heißt die Idee, man könne die sozialen Verhältnisse<br />

sozusagen planmäßig gestalten und die menschlichen Handlungsfolgen kontrollieren.<br />

Diese Idee, dass der Mensch sein Schicksal bestimmt und die Welt nach seinen<br />

Vorstellungen gestaltet, hatte sich spätestens seit der Französischen Revolution<br />

entwickelt, vor allem in der linken, auf die Veränderung der Gesellschaft zielenden<br />

Kritik, und sie war Allgemeingut von Saint-Simon über Marx bis zu Keynes. Übrigens<br />

hatte in Bezug auf die Kontrolle menschlicher Handlungsfolgen schon Kant<br />

in seiner Schrift »Streit der Fakultäten« gewarnt: »… wir haben es mit frei handelnden<br />

Wesen zu tun, denen sich zwar vorher diktieren lässt, was sie tun sollen, aber<br />

nicht vorhersagen, was sie tun werden …« 3 Der Zusammenbruch des realen Sozialismus<br />

hat dieser Vorstellung der planmäßigen Gestaltung der sozialen Verhältnisse<br />

den wohl entscheidenden Stoß versetzt. Auf dem Weg der Überführung der großen<br />

Industrie in staatliches Eigentum und der Planwirtschaft war die planmäßige Entwicklung<br />

der Wirtschaftsprozesse letztlich eben nicht gelungen. Dieses System<br />

hatte seine eigenen, nicht erwarteten und nicht geplanten Krisen hervorgebracht,<br />

denen die realsozialistische Gesellschaft, fassungslos und empört, letztlich ausgeliefert<br />

war. Diese Erfahrungen sind aus sozialistischer Theorie und Praxis nicht<br />

mehr wegzudenken.<br />

Angesichts des Verlusts dieser Gewissheiten bekommen utopische Vorstellungen<br />

eine andere politische Bedeutung. Sie eignen sich nicht mehr so richtig<br />

1 Platon: Politeia, 7. Buch.<br />

2 Homer, Ilias, 2. Gesang.<br />

3 Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten. Hrsg. von Steffen Dietzsch. Leipzig 1992, S. 82.<br />

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