Radikale Realpolitik - Rosa Luxemburg Stiftung
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Mein Anspruch an radikale Kritik der gegenwärtigen Verhältnisse ist:<br />
a) Die Gesellschaft, in der wir leben, muss unmissverständlich als das charakterisiert<br />
werden, was sie ist, nämlich Kapitalismus. Ich betone das, weil es ja nicht<br />
unüblich geworden ist, die aktuelle Gesellschaft mit allerhand anderen Termini zu<br />
qualifizieren. Die Rede ist von Arbeits-, Informations-, Medien-, postmoderner,<br />
Überfluss-, Wissens-, Zivilgesellschaft, um nur Beispiele zu nennen. 10 All diese<br />
Bezeichnungen vermitteln durchaus charakteristische Seiten des gegenwärtigen<br />
Systems, problematisieren letztlich aber Oberflächenerscheinungen. Verdeckt werden<br />
die bestimmenden gesellschaftlichen Eigentums- und Machtverhältnisse sowie<br />
das Faktum, dass es sich um eine profitorientierte, eine finanzmarktgetriebene<br />
und eine Klassengesellschaft handelt.<br />
b) <strong>Radikale</strong> Kritik am real existierenden Kapitalismus kann im Umkehrschluss<br />
nicht bedeuten, den gescheiterten Realsozialismus zum Maßstab zu machen. Dort<br />
war z. B. das Problem der Vergesellschaftung von Produktion und Distribution ungelöst<br />
und harrt konzeptionell wie praktisch kluger Herangehensweise. Das trifft<br />
auch auf die Rolle des Staates zu, die im Sozialismus als Instrument gesellschaftlicher<br />
Veränderung einseitig bzw. überbetont wurde, während ihr im real existierenden<br />
Kapitalismus bei marktwirtschaftlicher Gralshüterei zu geringe Bedeutung<br />
beigemessen wird.<br />
c) <strong>Radikale</strong> Kritik sollte immer einen konstruktiven Vorschlag und dessen Finanzierung<br />
einschließen. Dabei wird DIE LINKE für ihre Forderungen in der Regel<br />
andere Finanzierungsquellen als die gegnerischen bzw. konkurrierenden Parteien<br />
ins Auge fassen. Wichtig aber ist, dass die im Bundestag, in Landtagen oder<br />
Kommunalvertretungen für konkrete Politikfelder verantwortlichen linken Mandatsträgerinnen<br />
und -träger nicht ein und dasselbe Finanzaufkommen aus angestrebten<br />
Einnahmenerhöhungen für unterschiedliche Projekte veranschlagen. Dann<br />
entsteht in der Öffentlichkeit zu Recht der Eindruck von Unsolidität.<br />
d) Auch mit der auf den ersten Blick überzeugend klingenden Formel: »Es<br />
kann nur verteilt werden, was vorher produziert wurde« sollten LINKE vorsichtig<br />
umgehen. Sie sagt ja nichts darüber aus, wer bei der Verteilung wieviel vom Produzierten<br />
abbekommt und wie das zu Verteilende produziert wird. Ob es bei der<br />
Wertschöpfung human, umweltfreundlich, nachhaltig, innovativ und demokratisch<br />
zugeht oder ob das kurzfristige Renditeziel Hauptmaßstab und der Mensch nur<br />
»Kostenfaktor« ist. Das heißt: Die Frage nach Produktion und Verteilung des gesellschaftlichen<br />
Reichtums kann die nach den politischen Kräfte- und den Eigentumsverhältnissen<br />
sowie den Möglichkeiten ihrer Veränderung nicht aussparen.<br />
Zweitens gilt es im Sinne von Pierre Bourdieu, eine »ökonomische Alphabetisierung<br />
der Massen« zu betreiben, also die Aufklärung über ökonomische Zusam-<br />
10 Helmut Steiner: Was ist Geschichte? In: Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften, Band 19, Berlin<br />
2008, S. 231.<br />
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