Radikale Realpolitik - Rosa Luxemburg Stiftung
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diert wurde. […] Der Leninismus bedeutet eine bisher unerreichte Stufe des konkreten,<br />
nicht schematischen, nicht mechanischen, rein auf Praxis gerichteten<br />
Denkens. Dies zu erhalten ist die Aufgabe der Leninisten.« 5 Andererseits hat Karl<br />
Liebknecht in seinem zu Unrecht vernachlässigten 6 gesellschaftstheoretischen<br />
Entwurf im Gegensatz zur Bismarckschen »<strong>Realpolitik</strong>« die Politik geradezu als<br />
»Kunst des Unmöglichen« bestimmt, in der es immer darum gehe, »zur Realisierung<br />
der äußersten Möglichkeit [zu] treiben«, indem man nämlich »Ziel und Richtung<br />
noch weit über diese äußerste Möglichkeit« nimmt. 7 Denn das »Mögliche ist<br />
nur erreichbar durch Erstreben des Unmöglichen. Die realisierte Möglichkeit ist<br />
die Diagonale von Unmöglichkeiten.« 8<br />
Dieses Spannungsverhältnis zwischen Lenins sich auf Napoleon berufenden<br />
»rein auf Praxis gerichteten Denken« und Liebknechts »Kunst des Unmöglichen«<br />
könnte wohl »dialektisch« analysiert werden. In Lukács’ Formulierungen wird<br />
dies allerdings eher unter Berufung auf die Dialektik neutralisiert: »Studiert, um<br />
die dialektische Methode handhaben zu lernen. Um zu erlernen: wie durch die<br />
konkrete Analyse der konkreten Lage im Allgemeinen das Besondere und im Besonderen<br />
das Allgemeine; im neuen Moment einer Situation das, was es mit dem<br />
bisherigen Prozess verbindet und in der Gesetzlichkeit des Geschichtsprozesses<br />
das immer wieder entstehende Neue; im Ganzen der Teil und im Teil das Ganze; in<br />
der Notwendigkeit der Entwicklung das Moment des aktiven Handelns und in der<br />
Tat die Verknüpfung mit der Notwendigkeit des Geschichtsprozesses gefunden<br />
werden kann.« 9<br />
Ernst Bloch hat diesen von Lukács der Sache nach unternommenen Vermittlungsversuch<br />
zwischen situativer Flexibilität und den »großen Linien« des historischen<br />
Prozesses durch eine anspruchsvolle »Ontologie des Noch-Nicht« näher<br />
ausgeführt, in der er aktive Möglichkeit und passive Möglichkeit und äußere Zufälligkeiten<br />
von dialektisch vermittelten Prozessen unterscheidet: »Dialektischvermittelt-Unabgeschlossenes<br />
aber, als die Möglichkeit des währenden Prozesses,<br />
hat gar nichts gemein mit Schlecht-vermittelt-Beliebigem. Freilich wieder nicht,<br />
als wäre nun das im Anders-Seinkönnen des Prozesses Umgehende das strikte Gegenteil<br />
von jeder Art von Zufall und Kontingenz. Das riesige Experiment des vermittelten<br />
Anders-Seinkönnens im Prozess besitzt dieses Gegenteil noch nicht und<br />
hat noch weder Beruhigung noch auch einen Rechtstitel dazu, es zu besitzen. Vielmehr<br />
arbeitet in diesem Anders-Seinkönnen Möglichkeit gerade wieder dasjenige,<br />
5 http://marxists.architexturez.net/deutsch/archiv/lukacs/1924/lenin/kap6.htm.<br />
6 Eine der wenigen Ausnahmen stellt die Liebknecht-Rezeption Ossip K. Flechtheims dar (z.B. Ossip K. Flechtheim:<br />
Karl Liebknecht und <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong>. In: Gewerkschaftliche Monatshefte, Jg. 20 (1969), 5ff.).<br />
7 Karl Liebknecht: Studien über die Bewegungsgesetze der gesellschaftlichen Entwicklung. München 1922, S. 358<br />
ff.<br />
8 Ossip K. Flechtheim: Karl Liebknecht und <strong>Rosa</strong> <strong>Luxemburg</strong>. A. a. O. Immanuel Wallersteins Entwurf einer<br />
»Utopistik« knüpft an diese Denkrichtung Liebknechts an, um historische Übergänge denken zu können (Immanuel<br />
Wallerstein: Utopistik. Wien 2002).<br />
9 http://marxists.architexturez.net/deutsch/archiv/lukacs/1924/lenin/kap6.htm.<br />
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