Radikale Realpolitik - Rosa Luxemburg Stiftung
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Zur »Staatsfrage«: Institutionalisierte Politik, politische Organisation<br />
und herrschaftskritische Praxis<br />
Es geht also um eine komplexe Strategie der radikalen Revolutionierung aller<br />
Herrschaftsverhältnisse, d. h. nicht bloß der Ersetzung einer Gruppe von herrschenden<br />
Eliten durch eine anderen (Paretos und Michels’ »Kreislauf der Eliten«),<br />
aber auch nicht bloß der Übergang etwa von Herrschaftsverhältnissen auf der<br />
Grundlage personaler Abhängigkeit und Unterwerfung zu »modernen« Herrschaftsverhältnissen<br />
auf der Grundlage verselbständigter gesellschaftlicher Formen,<br />
die sich reproduzierende sachliche Abhängigkeiten und Unterordnung unter<br />
sachlich definierte Regeln schaffen (wie dies die Konzeption des Liberalismus in<br />
allen ihren Varianten begründete). Sondern »Revolutionierung« heißt hier die<br />
Überwindung auch dieser »sachlich vermittelten« modernen Herrschaftsverhältnisse<br />
– für welche die »Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise in modernen<br />
Gesellschaften sicherlich das zentrale, aber nicht das einzige Beispiel darstellt<br />
12 – durch eine umfassende Politik der Befreiung. Eine derartige umfassende<br />
Politik der Befreiung kann sich weder a priori in die Grenzen von Konzeptionen<br />
der Haupt- und Nebenwidersprüche einsperren lassen, noch sich ebenso a priori<br />
der Frage nach dem »nächsten Kettenglied« verweigern, d. h. strategisch oder taktisch<br />
begründete Prioritätensetzungen nicht zum Thema einer übergreifenden Verständigung<br />
in herrschaftskritischen Bündnissen zu machen. 13<br />
Hier möchte ich aber unterstellen, dass diese Problematik der Einheit in der<br />
Vielfalt, der strategisch wirksamen Gemeinsamkeit ganz unterschiedlich ansetzender<br />
Akteure oder auch Subjekte grundsätzlich theoretisch gelöst bzw. lösbar ist, 14<br />
und zunächst noch ein anderes theoretisch zu artikulierendes Problem herausarbeiten.<br />
Dies betrifft die Problematik der Politik als einer besonderen Form menschlicher<br />
Tätigkeiten. Das ist sicherlich ein weites Feld – von Karl Marx’ Kritik der<br />
12 Da die Debatte über diese »anderen Herrschaftsverhältnisse« zum einen durch einen problematischen Totalitätsanspruch<br />
eines »marxistischen« Ökonomismus, zum anderen aber auch durch einen postmodernen Wahn, ökonomische<br />
Verhältnisse in bloße Diskurseffekte auflösen zu wollen, immer noch weitgehend blockiert ist, kann ich<br />
hier nur erstens festhalten, dass es unklug wäre, schon den Versuch zu machen, eine vollständige Liste dieser in<br />
unseren Gesellschaften wirksamen »sachlich vermittelten« Herrschaftsverhältnisse erstellen zu wollen. Klar<br />
scheint mir immerhin zu sein, dass die modernen Geschlechterverhältnisse, die sich von dem rein personal begründeten<br />
und verwirklichten »Patriarchat« traditionaler bzw. vormoderner Gesellschaften durchaus unterscheiden,<br />
als zentrales Exempel für derartige Herrschaftsverhältnisse dienen können und sollten. Vermutlich gilt Ähnliches<br />
für die Verhältnisse von Neokolonialismus/Imperialismus und deren ideologische Begleiterscheinungen<br />
(Rassismus, Eurozentrismus), die sich von der Struktur vormoderner Reiche und Reichsideologien auf eine vergleichbare<br />
Weise unterscheiden.<br />
13 Die internationale, auch blockübergreifende Friedensbewegung ist in diesem Sinne nicht angemessen als eine<br />
»Ein-Punkt-Bewegung« zu begreifen, sondern als das Ergebnis einer derartigen, einzelne herrschaftskritische Bewegungen<br />
übergreifenden Verständigung auf gemeinsame Prioritäten – deutlich erkennbar daran, wie innerhalb<br />
dieser gemeinsamen Priorität der Abwehr weiterer Schritte der potenziell die Menschheit bedrohenden Hochrüstung<br />
relativ autonom immer auch frauenbewegte, ökologische oder auch Klassenthemen bearbeitet worden sind.<br />
14 Seit Aristoteles’ Metaphysik, die insofern auch Metapolitik ist (vgl. Georgios Iliopoulos: Ganzes und Teile des<br />
Politischen bei Aristoteles. Marburg 2004), werden die Fragen der Einheit aus und durch Vielheit intensiv philosophisch<br />
diskutiert – vgl. als neuere Beispiele Jean-Paul Sartre, Mao Dze Dong oder Laclau/Mouffe bzw. Hardt/<br />
Negri.<br />
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