Radikale Realpolitik - Rosa Luxemburg Stiftung
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Politik (wie sie André Tosel rekonstruiert hat) bis hin zu gegenwärtigen Denkern<br />
wie Alain Badiou, Jacques Rancière und Étienne Balibar. Es gibt aber m. E. hier<br />
einen zentralen Punkt, der als solcher klargestellt werden kann. Das ist die Frage<br />
des Staates als Form, in der Politik stattfindet und die wiederum allen Politiken in<br />
unseren modernen Gesellschaften der Tendenz nach ihre »herrschenden Formen«<br />
aufprägt.<br />
Diese Frage wird traditionell als Frage nach dem »Ende der Politik« (Michail<br />
Bakunin, Friedrich Engels) bzw. nach dem »Absterben des Staates« (Karl Marx,<br />
Wladimir Iljitsch Lenin) in einer befreiten Gesellschaft diskutiert. Dabei werden<br />
diese Fragen zumeist miteinander identifiziert – und seit den radikalen Debatten<br />
der 1960er Jahre zumeist im Sinne einer Resignation angesichts der in diesen Fragen<br />
aufscheinenden großen Aufgabe beantwortet (die dann anarchistischen und libertären<br />
Gruppierungen überlassen bleibt, die keinerlei gesellschaftlichen Einfluss<br />
entfalten und entfalten können). Ich denke dagegen, dass es dringend erforderlich<br />
ist, diese Fragen ganz grundsätzlich voneinander zu unterscheiden – also die Frage<br />
einer konfliktorischen Praxis der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse und<br />
Lebensweisen, die öffentlich (wie ich dies ganz grundsätzlich festhalten möchte)<br />
immer wieder von Neuem ausgetragen werden muss, zu trennen von der Frage des<br />
Staates als einer in bestimmter Weise verselbständigten Institutionalisierung von<br />
Politik. Ich denke außerdem, dass Politik als eine derartige konfliktorische Praxis<br />
letztlich in einer befreiten Gesellschaft nicht mit Gewalt auszutragen sein wird,<br />
sondern mit Argumenten, 15 während staatliche Politik immer schon auf Staats-Gewalt<br />
rekurriert. Um hier die Argumentation etwas abzukürzen, will ich hier gleich<br />
zu der These übergehen, dass in dieser »Staats-Gewalt« immer zwei Dimensionen<br />
zusammengebunden sind, die es zu unterscheiden gilt: die Dimension der Gewaltsamkeit<br />
(violence) – Max Weber hat bekanntlich den Staat durch das Monopol der<br />
legitimen Gewaltanwendung definiert –, und die Dimension der Macht, etwa auch<br />
aus institutionell autorisierter, in der Regel rechtlich artikulierter »Zuständigkeit«.<br />
Diese Unterscheidung ermöglicht es mir, zwischen dem »Absterben des Staates«<br />
und dem »Ende der Politik« auf eine Weise zu unterscheiden, die zwar das Ende<br />
von Gewaltsamkeit und »Verselbständigung« denken kann, ohne deswegen bereits<br />
15 Das schließt m. E. nicht aus, dass aus dem »sanften Zwang des Arguments« bzw. aus der Bereitschaft zum Zusammenhandeln<br />
mehrerer von einem wichtigen Argument Überzeugter auch durchaus Macht entstehen kann,<br />
bzw. aus der Fähigkeit, triftige Argumente zu finden und zu kommunizieren im Einzelfall und sogar auf die Dauer<br />
auch eine gewisse Autorität. Wer wie die anarchistischen und libertären Strömungen »keine Macht für Niemand«<br />
fordert und jegliche Autorität ablehnt, der wird in der Konsequenz auch jede, selbst gewaltfreie und radikaldemokratische<br />
Politik ablehnen müssen – mit der weiteren Konsequenz allerdings, dass dem gemäß dann keinerlei gemeinsame<br />
Gestaltung menschlicher Verhältnisse mehr denkbar wird, welche sich daher auf spontane Begegnungen<br />
und ein vorübergehendes Zusammenfinden von Individuen beschränken müssten. Faktisch wird diese Konsequenz<br />
immer wieder dadurch vermieden, dass jedenfalls bestimmte menschliche Verhältnisse naturalisiert (als<br />
naturgegeben betrachtet) werden: so etwa in libertären Positionen neo-liberaler Provenienz die Märkte oder in<br />
anti-autoritären Endzeitvisionen gegen Ende der 1970er Jahre die »Stämme«. In dem Gedanken der »freien Assoziation«,<br />
die auf konkreten Kooperationsvereinbarungen (vgl. Christoph Spehr u.a.: Gleicher als andere. Berlin<br />
2000) beruht, hat Marx jedenfalls Anfangsmomente einer schlüssigen Auffassung von befreiter Politik formuliert,<br />
welche über die anarchistische oder libertäre Position hinausgehen.<br />
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