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das argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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610 Kongreßberichte<br />

rungen betont hat, daß vor jeder planen Übertragung der in der Analyse des bürgerlichen<br />

Individuums gewonnenen Kategorien auf Angehörige vor- respektive nicht-bürgerlicher<br />

Gesellschaften dringend zu warnen sei (Transkulturelle Psychiatrie, Argument­<br />

Studienheft 23). Insofern kann die Psychologie ihren Nutzen in bezug auf kollektiv organisierte<br />

Gemeinwesen weniger bei der Erforschung des Individuums beweisen, sondern<br />

vielmehr bei der Untersuchung von Mentalitäten (ein Unterfangen, <strong>das</strong> in der französischen<br />

Annales-Schule seit langem mit Gewinn betrieben wird).<br />

Mit starker Betonung der Differenz zeigte P. Dinzelbacher (Stuttgart) an historischem<br />

- den Visionen Sterbender im Mittelalter - und modernem Material - den» Erinnerungen«<br />

von reanimierten Patienten, die klinisch tot waren, aus den 70er Jahren dieses<br />

Jahrhunderts -, daß zwar gleiche Strukturen der Erinnerungsarbeit des Gehirns in dieser<br />

Grenzsituation feststellbar sind, diese aber durch die kulturell bedingten Interpretationen<br />

der Subjekte sich in gänzlich anderen Erscheinungsformen präsentieren: nicht<br />

Schreckensbilder von Höllenstrafen und Fegefeuerqualen wie im Mittelalter werden<br />

heute beschrieben, sondern eine rosarote Jenseitsidylle; nicht Engel und Teufel empfangen<br />

heute die Seele, sondern Freunde und Verwandte; und die Erinnerung an <strong>das</strong> eigene<br />

Leben gestaltet sich nicht in der Form einer Vorhaltung von guten Taten und Sünden,<br />

sondern vielmehr als »schnell ablaufender Film« etc.<br />

Einen anderen methodischen Vorschlag machte W. Röcke (Berlin/West). In seinem<br />

Referat über den Witz im LaIebuch von 1597 versuchte er, mit Hilfe von Freuds Analyse<br />

der sprachlichen Techniken des Witzes die Struktur von Sprachspielen, von Infantilismus<br />

und Freude am Bösen in einem spätmittelalterlichen Text zu beschreiben und auf<br />

den historischen Stand kornischen Erzählens einerseits, auf den Prozeß der Individuation<br />

andererseits zu beziehen. In einem solchen operativen Umgang mit psychologischen<br />

- hier sprachanalytischen - Kategorien, in Versuchen einer Übersetzung des manifesten<br />

Diskurses eines literarischen Textes in seine latente Bedeutung unter Zuhilfenahme<br />

der Vorschläge Freuds, <strong>das</strong> Verhältnis beider Diskurse (als »Verschiebung«, »Verdichtung«,<br />

»Kompromißbildung« etc.) zu fassen, ohne dabei in die vulgäre Form der Psychoanalyse<br />

zu verfallen, die »keinen Füllhalter sehen kann, ohne an einen Penis zu denken«<br />

(G. Duby/G. Lardreau), und schließlich in dem Anspruch auf konsequente Beachtung<br />

der »Alterität« mittelalterlicher Literatur und des in ihr reflektierten sozialen<br />

Zusammenhangs wurden dann auch in der Abschlußdiskussion nützliche Perspektiven<br />

für weitere Bemühungen gesehen, mit Hilfe der Psychologie Fortschritte in der Mediävistik<br />

zu erzielen. - Die (insgesamt 11) Vorträge erscheinen 1985 im Verlag Kümmerle.<br />

Hans-Jürgen Bachorski (Berlin/West)<br />

Das Jahr 2000 wird nicht stattfinden<br />

Vortrag von Jean Baudrillard im Rahmen der Ringvorlesung »<strong>Theorie</strong> der Phantasie«<br />

an der FU Berlin, 24. Januar 1984<br />

Ob den zahlreichen Zuhörern von Baudrillards Vortrag die Welt in einem neuen Licht<br />

erschien, als sie erfuhren: »Das Jahr 2000 wird nicht stattfmden«? Daß wir allen Grund<br />

haben, daran tatsächlich zu zweifeln, ist inzwischen bekannt genug. Daß dies aber der<br />

Entgrenzung des Sirms durch die ständige Beschleunigung des Informationsumlaufs einerseits<br />

und der Unmöglichkeit von Geschichte durch ihre Vermassung andererseits zu<br />

verdanken ist, kann nur den überraschen, der die fatale Nietzsche-Rezeption einiger<br />

(ehemaliger) französischer Intellektueller nicht kennt. Baudrillards Vortrag bietet alle<br />

Klischees auf, mit denen sich spätestens seit Deleuzes/Guattaris »Anti-Ödipus« alle enttäuschten<br />

»Revolutionäre« schmücken: die faule Metaphysik der puren Kraftentfaltung,<br />

wohlfeile Katastrophenmystik, »frenetisches Einverständnis mit der Wirklichkeit«<br />

(Manfred Frank) und schließlich eine Relativierung des eigenen Sprechens, <strong>das</strong> zu zirkulären<br />

Argumentationsmustern führt (und führen soll): »Ich bin nicht mehr imstande, et-<br />

DAS ARGUMENT 146/1984 ©

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