das argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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634 Besprechungen<br />
vue dar. Unterstrichen wird diese Anlage durch zahlreiche eingeblendete Bild- und Textdokumente,<br />
welche mitnichten nur Auflockerungs-, sondern vor allem Mitteilungsfunktion<br />
haben. Mitgeteilt wird der perspektivhaltige Sachverhalt, daß »die kulturelle Opposition<br />
mehr Farben als der Regenbogen (hat)« (14). Um dies anschaulich zur Darstellung<br />
zu bringen, bedient sich die Autorin eines exemplarisch-kaleidoskopischen Verfahrens,<br />
<strong>das</strong> freilich zu selten (vgl. 70f.) ausdrücklich reflektiert wird. Vorgestellt wird eine Reihe<br />
modellartiger Beispiele aus dem reich differenzierten Spektrum kultureller Opposition,<br />
die zu einem erheblichen Teil aus der Verteidigung und Erweiterung gewachsener und<br />
differenzierter gewordener Lebensansprüche hervorgegangen ist.<br />
Hübner ist bemüht, mit ihrer Auswahl der Vielfalt der kulturellen Aktivitäten und<br />
Initiativbildungen gerecht zu werden. Zwar macht sie vor allem in Kapitell, worin unter<br />
kulturpolitischen und -theoretischen Gesichtspunkten die bundesdeutsche Kulturentwicklung<br />
nach 1969 skizzenförmig rekonstruiert wird, in ihren analytischen Bewertungen<br />
deutlich, daß für sie »eine gewerkschaftliche Orientierung der realistische Ansatz«<br />
und »die Hinwendung zur Arbeiterbewegung« (37) die tragfahige Entwicklungsperspektive<br />
für die Ausfaltung kultureller Oppositionsinitiativen bilden - nicht nur, weil Kulturfragen<br />
Machtfragen sind. Diese Positionsbestirnmung wird jedoch keineswegs dahingehend<br />
ausgemünzt, vom politischen Katheder herab Zensuren zu verteilen. Vielmehr<br />
wird unter kulturgeographischen, soziodemographischen und Gesichtspunkten der inzwischen<br />
fein abdifferenzierten Skala der Kultur- und Kunstformen die lebendige Vielgestalt<br />
kultureller Phantasie- und Kraftentfaltung als Entwicklungsqualität präsentiert.<br />
So werden, um einige wenige Beispiele herauszugreifen, kulturelle Initiativen vorgestellt,<br />
die in sozialen Bewegungen entstanden sind, etwa die Aktivitäten der »Grauen Panther«<br />
(58fL); Initiativen, die aus einer <strong>kritische</strong>n Revitalisierung traditioneller kultureller Lebensformen<br />
hervorgegangen sind, etwa <strong>das</strong> Butjerfest in Hannover (109fL); oder auch<br />
aktionskulturelle Ansätze, die im Verlauf gewerkschaftlicher Kämpfe gezündet haben,<br />
etwa in den Aktionen der »Heinze-Frauen« in Gelsenkirchen (165fL).<br />
Bewußt steuert <strong>das</strong> Buch unfruchtbaren Frontstellungen, etwa zwischen traditioneller<br />
Lebenskultur und spontaner Initiativkultur, professioneller Kunstpraxis und Laienkultur<br />
entgegen; darin liegt sein Wert als Beitrag zur Weiterverständigung innerhalb des Gesamtspektrums<br />
kultureller Oppositions- und Alternativbewegungen. Dieser mithin kulturstrategischen,<br />
politischen Intention, die Vielfalt der Kulturinitiativen als verteidigungs-<br />
und entwicklungswerten Gewinn zu betrachten, kommt <strong>das</strong> von Hübner gewählte<br />
Verfahren entgegen, nicht nur über exemplarische kulturelle Initiativbildungen zu berichten,<br />
sondern diese Initiativen, insbesondere durch Interviews, selbst zu Wort kommen<br />
zu lassen. So erfahrt der Leser gleichsam aus erster Hand einiges über Entstehung,<br />
Selbstverständnis und Entwicklungsschwierigkeiten demokratischer Kultur in der Bundesrepublik.<br />
Drei Aspekte aus der gewiß nicht problemarmen Situation, mit der sich den<br />
Erfahrungsberichten zufolge die demokratische Kulturbewegung gegenwärtig konfrontiert<br />
sieht, scheinen mir besonders bedenkenswert, weil sie Grund- und Perspektivfragen<br />
von eminent praktischer Bedeutung berühren, die keineswegs zureichend gelöst sind: Erstens<br />
<strong>das</strong> Problem des Mißbrauchs kultureller Eigeninitiative und Selbsthilfe als Alibi für<br />
die Radikalrasur öffentlicher Kultursubventionen; zweitens die Frage nach der Kontinuitätssicherung<br />
kultureller Initiativen bzw. nach der Verstetigung der kulturellen Opposition<br />
insgesamt; und drittens die komplizierte, heikle Frage, wie kulturelle Breitenarbeit<br />
und Einlösung »höchster künstlerischer Ansprüche« (vgl. 190,227) in einen praktischen<br />
Entwicklungszusarnmenhang gebracht werden können. Wohltuend schließlich, daß<br />
Hübner bei aller Vor-Ort-Problemnähe keinem Kultus reflexionsdistanzierter Betroffenheit<br />
frönt, sondern gerade auch im Blick auf die Probleme der Sammlung der kulturellen<br />
Oppositionskräfte anmahnt: »<strong>Theorie</strong> ist dringend nötig« (70).<br />
Friedhelm Kröll (Nürnberg)<br />
DAS ARGUMENT 146/1984 ©