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das argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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Kongreßberichte 609<br />

sondern auch in einer sehr instruktiven Einleitung die theoretische Diskussion umriß und<br />

für die Hinzuziehung psychoanalytischer und marxistischer Kategorien bei der Literaturinterpretation<br />

plädierte. Sein eigener Versuch, diesen Anspruch 1975 in einer Untersuchung<br />

mittelalterlicher Literatur einzulösen (in D. Richter [Hrsg.J, Literatur und Feudalismus),<br />

beschränkte sich allerdings auf <strong>das</strong> Aufspüren beliebter Motive der psychoanalytischen<br />

Traumdeutung wie Vater-Sohn-Konflikt, Inzest, Kastration in mittelalterlichen<br />

Texten, so daß die Literatur des Feudalismus nur als Traum des bürgerlich deformierten<br />

Individuums erschien, ohne daß ihre historische Spezifik als Literatur einer vorbürgerlichen<br />

Gesellschaft in den Blick kam.<br />

So konnte die Tagung in Steinheim mit ca. 40 Teilnehmer/inne/n (vorwiegend LiteraturwissenschaftIer,<br />

aber auch einige Psychologen) gleichzeitig eine Zwischenbilanz und<br />

einen Neuanfang bei einer methodischen Fundierung der Verknüpfung von Psychologie<br />

und Mediävistik versuchen. Deutlich wurden dabei jedoch vorwiegend die noch ungelösten<br />

Probleme.<br />

W. Schmitt (Heidelberg) führte eine Lektüre des Iwein von Hartmann von Aue vor,<br />

die die Passage über den »Wahnsinn« des Helden als eine Krankengeschichte las: Er<br />

übersetzte die Beschreibung Iweins in die Terminologie der modemen Psychiatrie und<br />

verglich die Schilderung von Krankheitssymptomen und Heilung mit dem Wissen der<br />

mittelalterlichen Medizin. Seine These, daß Hartmann über medizinische Kenntnisse<br />

verfügt habe, überzeugte zwar; doch wurde in der Diskussion eingewandt, daß sich zum<br />

einen im Bilde von Iweins Wahnsinn verschiedene Bilder der Isolation aus der höfischen<br />

Sozietät überschnitten und daß zum anderen mit dieser Aufdeckung erst die Frage nach<br />

der Funktion einer Verwendung psychologischer Motive im Text gestellt werden müsse:<br />

Iweins Wahnsinn sei so nicht als Krankengeschichte zu lesen, sondern als literarische<br />

Chiffre für die zentrale Aporie der höfischen Gesellschaft und den fiktiven Versuch ihrer<br />

Lösung.<br />

Auf ähnliche Einwände stieß der Vortrag von J. Kühnel (Siegen), der - im Anschluß<br />

an Freuds Defmition des Ödipuskomplexes - den Ödipusmythos, Sophokles' König<br />

Ödipus und Hartmanns Gregorius als analoge Realisationen des immer gleichen ontound<br />

phylogenetischen Problems, der Vater-Sohn-Konkurrenz und des Inzestwunsches,<br />

beschrieb. Kritisiert wurde hier die In-Einssetzung von Mythos, Traumdeutung und Literatur,<br />

die - unter Absehung von historischen Differenzen - nur <strong>das</strong> Ewig-Gleiche<br />

hervorheben könne. Auch hier stand die Frage nach der Funktion von psychologisch interpretierbaren<br />

Motiven im literarischen Text und nach der Spezifik des literarischen<br />

Entwurfs im Mittelpunkt, um so erst <strong>das</strong> je besondere Angebot von Verarbeitung sozialer<br />

Probleme entschlüsseln zu können: Sophokles' mythische Erinnerung an die Ablösung<br />

der matriarchalen durch die patriarchalische Gesellschaft sei eben etwas anderes als<br />

Hartmanns Diskussion verschiedener Formen adliger Existenz und Landesherrschaft<br />

um 1200.<br />

In anderen Vorträgen erwies sich die Aktualisierung der mittelalterlichen Literatur als<br />

noch problematischer: J. Margetts (Liverpool) etwa sah im US-amerikanischen Hite-Report<br />

(1976) und in den Mären des Spätmittelalters die identische Abbildung sexueller<br />

Frustrationen der Frauen und von männlichen Potenzängsten. Dagegen wurde nicht nur<br />

zu bedenken gegeben, daß empirische Sozialforschung anderes dokumentiert als (männliche)<br />

Imaginationen von Weiblichkeit, sondern auch der unterschiedliche historische<br />

Ort der beiden Quellen und die ihnen zugrunde liegende Verschiedenheit von sozialer<br />

Struktur und psychischer Verfassung der Individuen betont. Die Mären wären dann zu<br />

lesen als literarische Reflexion eben des Moments im »Prozeß der Zivilisation« und der<br />

»Dämpfung der Triebe« (Elias), in dem sich psychische Strukturen, wie sie heute empirisch<br />

beschrieben werden können, überhaupt erst herausbilden. Methodisch gilt auch<br />

hier, was E. Wulff in Auswertung seiner in Vietnam gemachten psychiatrischen Erfah-<br />

DAS ARGUMENT 145/1984 ©

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