das argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV
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J oachim Radkau<br />
Die Zweideutigkeit des Kapitals gegenüber dem Faschismus<br />
Einige Gedanken zum Verhältnis von Geschichtsforschung und<br />
Faschismustheorie und zum Vergleich zwischen Deutschland und Italien*<br />
1. Faschismusforschung und Faschismus-<strong>Theorie</strong>:<br />
Die Gefahr der Betriebsblindheit und des Aneinander-Vorbeiredens<br />
Am 6. August 1932 schrieb Eckart Kehr an Wolfgang Hallgarten - beides damals<br />
junge Historiker, die als Pioniere in der Erforschung ökonomischer Zusammenhänge<br />
der Geschichte innerhalb der Historikerzunft auf verlorenem<br />
Posten standen: »In 30 Jahren werden wir ja auch genug Material haben, hoffe<br />
ich, um im einzelnen zeigen zu können, was Adolf und seine ganzen 13 Millionen<br />
wildgewordener Idiotenbürger für Huren der Thyssen etc. waren.«! Die<br />
dreißig Jahre sind längst vergangen. Kehr starb schon 1933; Hallgarten blieb<br />
zeitlebens isoliert. 2 Noch heute wären die allermeisten Historiker über den<br />
Kehrsehen Vorsatz, die Nazis als »Huren der Thyssen etc.« zu enthüllen, gewiß<br />
peinlich berührt. Kaum daß die Beziehungen zwischen Industrie und Faschismus<br />
um 1970 herum ein etwas intensiveres wissenschaftliches Interesse gefunden<br />
hatten, wurde es schon wieder Mode, <strong>das</strong> Thema als »modisch« abzutun.<br />
Dennoch wurde während der 70er Jahre von der Geschichtsforschung ein<br />
immer dichteres Netz von Querverbindungen zwischen faschistischer Politik<br />
und industriellen Strategien aufgedeckt - mitunter sogar dann, wenn die erklärte<br />
Absicht bestand, die aller Ökonomie spottende Eigendynamik des Faschismus<br />
zu demonstrieren) Nach und nach - wenn auch vielfach nicht klar<br />
begriffen - stellte sich heraus, daß selbst dann, wenn man ganz ohne kritischtheoretische<br />
Ambitionen einfach die Quellen durchackerte, <strong>das</strong> Gewicht ökonomischer<br />
Bedingungen bei der Etablierung des NS-Systems kein bloßer<br />
Ran<strong>das</strong>pekt, sondern eine gewichtige Determinante war. Aber die theoretische<br />
Aufarbeitung hat mit der empirischen Forschung nicht Schritt gehalten. Das<br />
Gesamtbild der Geschehnisse ist bislang eher verwirrender geworden. Zwar ist<br />
die Masse der Belege über Affinitäten zwischen Kapital und Faschismus beträchtlich<br />
gewachsen, ebenfalls jedoch die Zahl der Beobachtungen, die auf<br />
ein schwankendes und mehrdeutiges Verhalten der Wirtschaftsführer gegenüber<br />
den Faschisten hinweisen. Den Gipfel der Verwirrung bescherte kürzlich<br />
die Dissertation von Neebe, der nachwies, daß ab 1932 ausgerechnet Silverberg<br />
- der Braunkohlenindustrielle jüdischer Herkunft, der bislang als Oberhaupt<br />
einer republikfreundlichen Industriefraktion gegolten hatte - zielstrebig die<br />
Kanzlerschaft Hitlers betrieb, während die Spitze des Reichsverbandes der<br />
Deutschen Industrie Ende 1932 entgegen verbreiteter Annahme an Schleicher<br />
festhielt. 4<br />
* Wesentliche Anregungen verdankt dieser Beitrag einer zum Thema »Faschismus« unternommenen<br />
Italien-Exkursion mit Kollegen und Studenten der Universität Bielefeld und einem dabei abgehaltenen<br />
Kolloquium »Italienischer und deutscher Faschismus im Vergleich« mit Historikern<br />
und Politikwissenschaftlern der Universita degli Studi di Perugia (Oktober !982).<br />
DAS ARGUMENT 146/1984 'S