02.03.2014 Aufrufe

das argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV

das argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV

das argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Sprach- und Literaturwissenschaft 627<br />

mus (was ihre Methoden angeht) geprägt ist, ein Buch zu ihrer »theoretischen Grundlegung«<br />

vorzulegen. Sinnvoll scheint dies nur, wenn der Autor sich anheischig macht, sowohl<br />

eine plausible Möglichkeit zur Rekonstruktion der menschlichen Geschichte als<br />

auch der jeweils historisch-spezifischen Funktion, die Literatur in ihr innehat(te), anzugeben.<br />

Genau dies unternimmt Reiner Wild unter Rückgriff auf die Untersuchung von<br />

Norbert Elias Über den Prozeß der Zivilisation ('1939, 21%9, 31976), die ihm deshalb<br />

für sein Projekt so attraktiv erscheint, weil in ihr »die Vermittlung von [menschlichen]<br />

Verhaltensweisen und Bewußtseinsformen und der im engeren Sinne sozialgeschichtlichen,<br />

letztlich ökonomischen Entwicklung bereits geleistet ist« (50). Denn dies ermöglicht,<br />

begreift man (mit Wild) »Literatur als eine Äußerungsform menschlicher Verhaltensweisen<br />

und Bewußtseinsformen und zugleich als ein Medium. ihrer Reflexion«<br />

(ebd.), die spezifische Qualität von Literatur und die Funktion(en), die sie ausübt, als integratives<br />

Moment des historisch-gesellschaftlichen Prozesses (der Zivilisation) zu verstehen.<br />

Elias beschreibt in seinem Werk, daß (im Zeitraum von etwa 1100 bis 1800) <strong>das</strong><br />

durchschnittliche Verhalten von Angehörigen der westeuropäischen Oberschichten -<br />

vermittelt durch die Tatsache, daß der gesellschaftliche Zwang »von außen« sich durch<br />

die allmähliche Ausformung einer »Selbstzwang-Apparatur« ins Innere der Individuen<br />

verlagert - zunehmend berechenbarer, geregelter, disziplinierter wird. Zur Erklärung<br />

verweist Elias auf den gleichzeitig ablaufenden Prozeß der Herausbildung von Gewaltund<br />

Steuermonopolen, <strong>das</strong> heißt von zentralisierten Staaten: Dieser Prozeß impliziert eine<br />

Erweiterung und zugleich eine verstärkte Integration der jeweiligen Gesellschaft oder,<br />

aufs Individuum bezogen, eine Verlängerung und Verfestigung der »Interdependenzketten«,<br />

in die <strong>das</strong> Individuum einbezogen ist. Der Übergang der feudalistischen Gesellschaft<br />

in die bürgerlich-kapitalistische modifiziert die Anforderungen an die Individuen<br />

wie auch die Disziplinierungsformen wiederum grundlegend: Gewalt wird nun nicht<br />

mehr von einem einzelnen (dem absolutistischen Herrscher) über alle anderen ausgeübt,<br />

sondern (dem Anspruch nach) von der Gesellschaft bzw. der autonomen bürgerlichen<br />

Persönlichkeit über sich selbst.<br />

Wild versucht, die möglichen Funktionen darzustellen, die Literatur bei der Ausbildung,<br />

Stabilisierung und - unter sich verändernden historischen Umständen - jeweils<br />

nötigen Modifikation dieser - zivilisierte Verhaltensweisen garantierenden - »Selbstzwang-Apparatur«<br />

(historisch im Laufe der menschlichen Geschichte, sozusagen phylogenetisch,<br />

und jeweils in der den Zivilisationsprozeß einholenden Sozialisation des je einzelnen<br />

Individuums, sozusagen ontogenetisch) haben kann. Er unterscheidet stabilisierende<br />

Funktionen (die didaktische, gesellige, sensibilisierende, entlastende, erfahrungserweiternde)<br />

und reflexive (die <strong>kritische</strong>, antizipierende), die sich in unterschiedlicher<br />

Kombination auf differente (Wild nennt in Anlehnung an Raymond Williams residuale,<br />

dominante und progredierende) Verhaltensweisen beziehen können. Daß Literatur diese<br />

Funktion(en) habe, sieht Wild - unter Rückgriff auf Kant - darin begründet, daß sie<br />

lustvoll ästhetische Erkenntnis vermittle und auf diese Weise - die menschliche Geschichte<br />

reflektiert erinnernd - die Möglichkeit von Sinn verbürge.<br />

Kritisch ist einzuwenden, daß Wild Elias unkritisch rezipiert: Die menschliche Geschichte<br />

als eine von Klassenkämpfen wird zu einem Prozeß der Zivilisation. Trotz aller<br />

Einschränkungen wird der Gang der Geschichte bejaht. Klassengegensätze stellen sich<br />

als »Figurationen« dar; <strong>das</strong> Problem gleich bzw. ungleich verteilter »Machtchancen«<br />

verschwindet in einer Fußnote (199). Vollends harmonisiert Wild <strong>das</strong> Bild gesellschaftlicher<br />

Auseinandersetzungen, wenn er davon spricht, daß im Rahmen der sich immer<br />

stärker miteinander verflechtenden sozialen »Schichten und Klassen« ein »Ausgleich«<br />

(66, 80) der sozial differenten Verhaltensstandards stattfmdet. Die tatsächlichen massiven<br />

Disziplinierungsprozesse der herrschenden Klassenalliartzen, auf die sich Wild impli-<br />

DAS ARGUMENT 146/1984 ©

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!