Vollversion (1.42 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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Fremdelnde Freunde<br />
Gründungsdaten der beiden später vielfach rivalisierenden<br />
Modelle liegen fast ein Jahrhundert<br />
auseinander: Bei Gründung des Allgemeinen<br />
Deutschen Arbeitervereins (1863) bestehen<br />
die Vereinigten Staaten von Amerika seit 87<br />
Jahren, und der Gothaer Vereinigungsparteitag<br />
trifft fast aufs Jahr mit der amerikanischen Hundertjahrfeier<br />
der Unabhängigkeitserklärung zusammen.<br />
Als der Hase deutsche Sozialdemokratie<br />
sich als Partei gründete, war der Igel<br />
Amerika schon längst da, war, was besonders<br />
wichtig ist, auf deutschem Boden und im deutschen<br />
Bewusstsein schon so wirkmächtig geworden,<br />
dass z.B. die Verfassungsväter der<br />
Paulskirche sich die amerikanische Verfassung<br />
als Vorbild genommen, und dass bereits über<br />
eine Million Deutscher ein Leben innerhalb des<br />
amerikanischen Ordnungsrahmens als attraktiver<br />
als ein Verbleiben in Deutschland angesehen<br />
hatten, sprich: ausgewandert waren. Weitere<br />
Millionen sollten ihnen im neunzehnten Jahrhundert<br />
folgen – im übrigen zum großen Leidwesen<br />
der sozialdemokratischen Führer und<br />
Vordenker.<br />
So müssen wir uns fragen, ob diese Tatsache<br />
der unterschiedlichen historischen ‚Dignität‘<br />
beider Modelle nicht zumindest im Unbewussten<br />
die sozialdemokratischen Gefühle gegenüber<br />
den USA bestimmt hat und vielleicht<br />
immer noch bestimmt. Ganz gewiss aber hat die<br />
durch die Auswanderung bedingte Konkurrenzsituation<br />
– die Amerikawanderung wurde von<br />
Sozialdemokraten nicht nur als brain- und souldrain,<br />
sondern auch als Absage an das sozialdemokratische<br />
Modell Deutschland verstanden –<br />
das allgemeine Konkurrenzgefühl gegenüber<br />
den USA erhöht.<br />
2. Dazu gehört ein weiteres Moment, nämlich<br />
das der ideologischen Rivalität, wie sie sich<br />
historisch auch in Sprachsymbolen abbildet.<br />
Nicht von ungefähr hat die Sozialdemokratie,<br />
als sie in Deutschland auf der Bühne erschien,<br />
den Anspruch erhoben, die ‚Neue Welt‘, und<br />
das hieß im zeitgenössischen Kontext eben: die<br />
11<br />
Neue Welt zu repräsentieren. Wir finden, sehen<br />
wir uns die überreiche sozialdemokratische Presselandschaft<br />
im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts<br />
an, eine ausgeprägte, insbesondere in Zeitungs-<br />
und Zeitschriftentiteln aufscheinende<br />
Symbolik, die durchaus mit derjenigen des amerikanischen<br />
Selbstverständnisses konkurriert:<br />
als die transatlantische Welt schon hundert Jahre<br />
lang als politisch organisierte Ordnung existierte,<br />
erschien ‚Die Neue Welt‘ (mit dem Untertitel<br />
,Illustriertes Unterhaltungsblatt für das<br />
Volk‘; 1876-1919) auf dem sozialdemokratischen<br />
Zeitungsmarkt; das wichtigste theoretische<br />
Organ neben den Sozialistischen Monatsheften,<br />
‚Die Neue Zeit‘, war 1883 zum erstenmal<br />
erhältlich; und als die Zeitschrift ‚Die Neue<br />
Gesellschaft‘ erstmals erschien, war die transatlantische<br />
neue Gesellschaft schon fast anderthalb<br />
Jahrhunderte lang installiert.<br />
Andere Periodika nannten sich ,Die Fackel‘,<br />
,Lichtstrahlen‘, ‚Die Freiheit‘ oder ,Freie Welt‘<br />
– unverkennbar auch diese an die amerikanische<br />
Symbolik erinnernden Titel, die vermuten<br />
lassen, dass sich die Sozialdemokraten als Repräsentanten<br />
und Künder einer anderen neuen<br />
Welt gefühlt haben, die der älteren Neuen Welt<br />
als jüngere, zu deren Ablösung bestimmte gegenüber-<br />
und somit auch in ein Konkurrenzverhältnis<br />
zu ihr tritt. Freilich könnte ein bestimmter<br />
Zug des sozialdemokratischen Amerikabildes<br />
auch vermuten lassen, dass man sich nicht<br />
als Konkurrent Amerikas verstand, sondern sich<br />
vielmehr die sozialistische Gesellschaftsordnung<br />
als ein weiteres, anderes oder besseres<br />
Amerika vorstellte. Wenn Wilhelm Liebknecht<br />
den Auswanderern zuruft: „Lasst uns die neue<br />
Welt in der alten herstellen. Keine Auswanderung<br />
mehr! In Deutschland liegt unser Amerika!“<br />
– dann steht eindeutig die Vorstellung<br />
dahinter, die Sozialdemokratie sei dazu bestimmt,<br />
Amerika – was immer dies in den Köpfen<br />
bedeutete – nach Deutschland zu bringen.<br />
Dies würde darüber hinaus auch heißen, dass<br />
deutsche Sozialdemokraten den Sozialismus als