Vollversion (1.42 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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Von Brillen und Bildern<br />
Sachfragen und dem langfristig wirksamen Bestimmungsfaktor<br />
der Parteiidentifikation zur Erklärung<br />
des Wählerverhaltens (Falter/Schoen<br />
2005: 187-242; Eith/Mielke 2005: 328-330)<br />
gehen vornehmlich von der Denkfigur des individuell<br />
abwägenden Wählers aus, eine Denkfigur,<br />
die etwa auch im Blick auf den Medienkonsum<br />
in verschiedenen Varianten der Erklärung<br />
politischen Verhaltens verwendet wird.<br />
Vor diesem theoretischen Hintergrund und<br />
angesichts der darauf basierenden Forschung<br />
hat in den letzten Jahren die Figur des ‚volatilen‘<br />
Wählers, der oftmals erst in letzter Minute,<br />
auf dem Weg ins Wahllokal, zu seiner Entscheidung<br />
gelangt, die stillen Kammern wahlsoziologischer<br />
Nachdenklichkeit verlassen und ist<br />
gewissermaßen als der gängige, idealtypische<br />
moderne Wähler in das Licht und den Lärm der<br />
breiten Öffentlichkeit getreten. Dabei hat sich<br />
diese Denkfigur unter den Bedingungen und<br />
der Präsentationslogik der neuzeitlichen Medienlandschaft<br />
auch als eine Bereicherung der<br />
aktuellen Berichterstattung vor allem des Fernsehens<br />
erwiesen. Bürger und Wähler erscheinen<br />
hier als bis zuletzt umkämpfte, noch unentschiedene<br />
Kunden auf dem politischen Markt,<br />
heiß umworben von geschickten, nach allen<br />
Regeln der Werbekunst agierenden politischen<br />
Verkäufern, die sich ihrerseits wiederum auf<br />
dem Weg zum Wahlsieg ein spannendes, prinzipiell<br />
offenes, vor allem aber auch für die Medien<br />
attraktives Brust-an-Brust-Rennen liefern.<br />
Man kann unschwer erkennen, in welch hohem<br />
Maße die Denkfigur des volatilen Wählers den<br />
Hoffnungen, Erwartungen und Logiken der<br />
Politiker, der Parteien und der sie umgebenden<br />
Medien- und Wahlkampfprofessionals entspricht.<br />
Die Erklärungsansätze der Forschung<br />
bilden mit dem Darstellungsdrang der Medien<br />
und den Gestaltungsansprüchen der Politik eine<br />
enge Symbiose.<br />
In Abgrenzung von dieser Vorstellung eines<br />
weithin individualisierten politischen Marktes<br />
mit rationalen Akteuren verweist der zweite gro-<br />
19<br />
ße Interpretationsansatz der gesellschaftlichen<br />
und politischen Modernisierung auf ein Modell<br />
nach wie vor strukturierter sozialer und<br />
kultureller Felder und Gruppen. Auch in dieser<br />
Sicht wird zunächst die Erosion traditioneller<br />
Milieus und Gruppenbindungen nicht bestritten.<br />
So sind die klassischen Milieus der Industriearbeiterschaft<br />
im Verlauf der letzten Jahrzehnte<br />
in der Tat sichtbar abgeschmolzen, und<br />
auch der Kirchenbesuch, der in allen Wahlstudien<br />
als zentraler Indikator für die Existenz eines<br />
katholischen Milieus mit entsprechenden<br />
Wahlnormen benutzt wird, hat ganz unbestritten<br />
erheblich nachgelassen.<br />
Unterschiede zum Individualisierungs- und<br />
Marktmodell bestehen aus der Sicht der Vertreter<br />
der Gruppen- und Feldtheorie vor allem in<br />
zweierlei Hinsicht. Zum einen wird aus der<br />
Erosion der traditionellen Milieus und Gruppen<br />
nicht der Schluss einer generellen Entstrukturierung<br />
der Gesellschaft gezogen. Stattdessen<br />
wird auf die Entstehung neuer sozialer Konfigurationen<br />
und Gruppen verwiesen, die sich<br />
aber dennoch in hohem Maße sowohl horizontal<br />
wie auch vertikal an vorgängige soziale Strukturmuster<br />
anpassen. An die Stelle der etwa von<br />
den Vertretern des Individualisierungsparadigmas<br />
fast schon mantra-artig beschworenen, abschmelzenden<br />
Industriearbeiterschaft tritt in dieser<br />
Sichtweise ein ganzes Spektrum von sozialen<br />
Gruppen mit niedrigem Sozialstatus, mit<br />
vergleichbaren Mentalitäten und sozialen Selbsteinstufungen.<br />
Mit anderen Worten: Man konstatiert<br />
primär keine Individualisierung, sondern<br />
eine Ausdifferenzierung von Statuslagen bei<br />
gleichzeitiger Beibehaltung hierarchischer Orientierungen.<br />
Zweitens hebt die Gruppentheorie den Aspekt<br />
der fortwährenden Aktualisierung und Re-<br />
Vitalisierung der in den verschiedenen sozialen<br />
Gruppen und Feldern angelegten politischen<br />
Dispositionen durch die jeweiligen Eliten und<br />
Aktivisten der Parteien hervor. Die Koalitionen<br />
zwischen sozialen Gruppen und Parteien sind