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Vollversion (1.42 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen

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22<br />

zuletzt unter dem Einfluss der Wahlsoziologie<br />

in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts<br />

korrigiert werden musste. Andrerseits<br />

jedoch wird der neue, individualisierte Wähler<br />

nicht von der aufgeklärten Einsichtsfähigkeit,<br />

dem öffentlichen Engagement und der Vernunft<br />

beseelt, die das frühliberale Bürgerbild auszeichneten<br />

und auch zu einem Abgleich des je<br />

individuellen Kalküls mit umfassenderen Gemeinwohlvorstellungen<br />

führen sollten. Der<br />

neue, aus Bindungen freigesetzte Wähler stellt<br />

die Parteien vor erhebliche Integrations- und<br />

Repräsentationsprobleme; denn mit der theoretisch<br />

postulierten sozialen Ungebundenheit verringern<br />

sich die Möglichkeiten, Wählergruppen<br />

über den Rekurs auf längerfristige, gemeinsame<br />

Interessen an Parteien zu binden. Hier zeichnet<br />

sich eine beinahe ironische Pointe ab. Die<br />

Ausrichtung auf eben dieses Wählerbild, wie<br />

sie durch die Struktur des politisch-wissenschaftlichen<br />

Komplexes systematisch begünstigt<br />

wird, bestärkt die Entwicklung eines Politikstils,<br />

der die zuvor theoretisch abgeleitete Individualisierung<br />

und Freisetzung wachsender<br />

Segmente der Wählerschaft im Sinn einer ‚selffullfilling-prophecy‘<br />

dann auch wirklich beschleunigt.<br />

Auch auf der Angebotsseite der Politik werden<br />

Entwicklungen sichtbar, die vor dem Hintergrund<br />

eines pluralistischen Demokratiemodells<br />

problematisch sein können. Ausgangspunkt<br />

dieser Entwicklungen ist eine gewissermaßen<br />

doppelte Ökonomisierung der Politik. Zum einen<br />

ist damit der Bedeutungszuwachs der Ökonomie<br />

gegenüber der Politik nach dem Ende<br />

des Ost-West-Konflikts und in der Ära der Globalisierung<br />

gemeint. Befreit von der jahrzehntelangen<br />

Sorge vor sozialistischen Staatsvarianten<br />

jeglicher Provenienz kann sich die Ökonomie<br />

immer stärker von den regulativen Ansprüchen<br />

der Politik emanzipieren und die Politik<br />

zunehmend für Verbesserung der eigenen<br />

Markt- und Standortbedingungen in die Pflicht<br />

nehmen. Zum andern kann man darunter aber<br />

Ulrich Eith/Gerd Mielke<br />

auch den Vormarsch verschiedener ökonomischer<br />

Theorien in alle möglichen sozialwissenschaftlichen<br />

Themenfelder und von da aus auch<br />

in den politischen Bereich selbst verstehen.<br />

Der Bedeutungszuwachs der – wie auch<br />

immer modifizierten und zuweilen trivialisierten<br />

– Rational Choice-Theorie in der Wahlforschung<br />

ist hier schon erwähnt worden. Auch<br />

auf anderen Themenfeldern wie der Policy-Forschung<br />

oder der Forschung zu Fragen der Governance<br />

haben ökonomische Ansätze große<br />

Bedeutung gewonnen. Bei allen Unterschieden<br />

im Einzelnen ist diesen Ansätzen gemeinsam,<br />

dass sie ein Bild von politischen Problemen<br />

zeichnen, das die Dimension von Normen- und<br />

Interessenvielfalt und von daraus hervorgehenden<br />

Konflikten hinter den Eindruck einer rationalen<br />

Entscheidungsfindung nach dem Muster<br />

betriebswirtschaftlicher Optimierungen zurücktreten<br />

lässt. An die Stelle von Harold Laswells<br />

berühmter Definition des Politischen in Frageform<br />

„Who gets what, when, and how?“ tritt<br />

eine Vorstellung von Politik als Unternehmenssanierung.<br />

Gerhard Schröders oft kolportierte<br />

Auffassung, es gebe keine sozialdemokratische<br />

oder christdemokratische Wirtschaftspolitik,<br />

sondern nur richtige oder falsche, illustriert diesen<br />

Paradigmenwechsel.<br />

Die mit der Individualisierungsthese und den<br />

ökonomischen Sichtweisen verbundene Annahme<br />

einer tendenziellen Entstrukturierung der Gesellschaft<br />

erklärt überdies auch die stetig wiederholte<br />

Beschwörung einer wie auch immer<br />

definierten ‚Mitte‘ der Gesellschaft und Wählerschaft,<br />

die von den Parteien als Zielpunkt<br />

anzustreben sei. Diese ‚Mitte‘ – sei sie nun neu<br />

oder auch nicht – ist im Übrigen nicht zu verwechseln<br />

mit dem soziologischen Konzept der<br />

Mittelschichten; im Gegensatz zu dem soziologischen<br />

Konzept wird die ‚Mitte‘ zumeist als<br />

eine von sozialen und ökonomischen Substanzen<br />

weitgehend bereinigte, damit zur Beschreibung<br />

des gesellschaftlichen Pluralismus auch<br />

recht unbrauchbare Kategorie 4 benutzt.

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