Vollversion (1.42 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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zuletzt unter dem Einfluss der Wahlsoziologie<br />
in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts<br />
korrigiert werden musste. Andrerseits<br />
jedoch wird der neue, individualisierte Wähler<br />
nicht von der aufgeklärten Einsichtsfähigkeit,<br />
dem öffentlichen Engagement und der Vernunft<br />
beseelt, die das frühliberale Bürgerbild auszeichneten<br />
und auch zu einem Abgleich des je<br />
individuellen Kalküls mit umfassenderen Gemeinwohlvorstellungen<br />
führen sollten. Der<br />
neue, aus Bindungen freigesetzte Wähler stellt<br />
die Parteien vor erhebliche Integrations- und<br />
Repräsentationsprobleme; denn mit der theoretisch<br />
postulierten sozialen Ungebundenheit verringern<br />
sich die Möglichkeiten, Wählergruppen<br />
über den Rekurs auf längerfristige, gemeinsame<br />
Interessen an Parteien zu binden. Hier zeichnet<br />
sich eine beinahe ironische Pointe ab. Die<br />
Ausrichtung auf eben dieses Wählerbild, wie<br />
sie durch die Struktur des politisch-wissenschaftlichen<br />
Komplexes systematisch begünstigt<br />
wird, bestärkt die Entwicklung eines Politikstils,<br />
der die zuvor theoretisch abgeleitete Individualisierung<br />
und Freisetzung wachsender<br />
Segmente der Wählerschaft im Sinn einer ‚selffullfilling-prophecy‘<br />
dann auch wirklich beschleunigt.<br />
Auch auf der Angebotsseite der Politik werden<br />
Entwicklungen sichtbar, die vor dem Hintergrund<br />
eines pluralistischen Demokratiemodells<br />
problematisch sein können. Ausgangspunkt<br />
dieser Entwicklungen ist eine gewissermaßen<br />
doppelte Ökonomisierung der Politik. Zum einen<br />
ist damit der Bedeutungszuwachs der Ökonomie<br />
gegenüber der Politik nach dem Ende<br />
des Ost-West-Konflikts und in der Ära der Globalisierung<br />
gemeint. Befreit von der jahrzehntelangen<br />
Sorge vor sozialistischen Staatsvarianten<br />
jeglicher Provenienz kann sich die Ökonomie<br />
immer stärker von den regulativen Ansprüchen<br />
der Politik emanzipieren und die Politik<br />
zunehmend für Verbesserung der eigenen<br />
Markt- und Standortbedingungen in die Pflicht<br />
nehmen. Zum andern kann man darunter aber<br />
Ulrich Eith/Gerd Mielke<br />
auch den Vormarsch verschiedener ökonomischer<br />
Theorien in alle möglichen sozialwissenschaftlichen<br />
Themenfelder und von da aus auch<br />
in den politischen Bereich selbst verstehen.<br />
Der Bedeutungszuwachs der – wie auch<br />
immer modifizierten und zuweilen trivialisierten<br />
– Rational Choice-Theorie in der Wahlforschung<br />
ist hier schon erwähnt worden. Auch<br />
auf anderen Themenfeldern wie der Policy-Forschung<br />
oder der Forschung zu Fragen der Governance<br />
haben ökonomische Ansätze große<br />
Bedeutung gewonnen. Bei allen Unterschieden<br />
im Einzelnen ist diesen Ansätzen gemeinsam,<br />
dass sie ein Bild von politischen Problemen<br />
zeichnen, das die Dimension von Normen- und<br />
Interessenvielfalt und von daraus hervorgehenden<br />
Konflikten hinter den Eindruck einer rationalen<br />
Entscheidungsfindung nach dem Muster<br />
betriebswirtschaftlicher Optimierungen zurücktreten<br />
lässt. An die Stelle von Harold Laswells<br />
berühmter Definition des Politischen in Frageform<br />
„Who gets what, when, and how?“ tritt<br />
eine Vorstellung von Politik als Unternehmenssanierung.<br />
Gerhard Schröders oft kolportierte<br />
Auffassung, es gebe keine sozialdemokratische<br />
oder christdemokratische Wirtschaftspolitik,<br />
sondern nur richtige oder falsche, illustriert diesen<br />
Paradigmenwechsel.<br />
Die mit der Individualisierungsthese und den<br />
ökonomischen Sichtweisen verbundene Annahme<br />
einer tendenziellen Entstrukturierung der Gesellschaft<br />
erklärt überdies auch die stetig wiederholte<br />
Beschwörung einer wie auch immer<br />
definierten ‚Mitte‘ der Gesellschaft und Wählerschaft,<br />
die von den Parteien als Zielpunkt<br />
anzustreben sei. Diese ‚Mitte‘ – sei sie nun neu<br />
oder auch nicht – ist im Übrigen nicht zu verwechseln<br />
mit dem soziologischen Konzept der<br />
Mittelschichten; im Gegensatz zu dem soziologischen<br />
Konzept wird die ‚Mitte‘ zumeist als<br />
eine von sozialen und ökonomischen Substanzen<br />
weitgehend bereinigte, damit zur Beschreibung<br />
des gesellschaftlichen Pluralismus auch<br />
recht unbrauchbare Kategorie 4 benutzt.