Vollversion (1.42 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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18 Ulrich Eith/Gerd Mielke<br />
ker und den Beschäftigungshoffnungen des<br />
Beratungskomplexes. Demgegenüber treten<br />
Wählerbilder, die sich auf längerfristig angelegte,<br />
soziale Strukturen und damit einhergehende<br />
Orientierungen, Weltbilder und Interessen<br />
stützen, und ein Politikverständnis, das sich<br />
um die Festigung und Fortschreibung längerfristiger<br />
Koalitionen zwischen Parteien und<br />
Wählern bemüht, systematisch in den Hintergrund.<br />
2 Theoretische ‚Brillen‘ der<br />
Parteienforschung<br />
Parteien kann man auf recht unterschiedliche<br />
Weise analysieren. Den meisten Beiträgen in<br />
diesem Heft liegt eine Betrachtung zugrunde,<br />
die an das aus der amerikanischen Parteienforschung<br />
bekannte Konzept der ‚parties in electorate‘<br />
anknüpft. Parteien erscheinen hierbei als<br />
längerfristige Koalitionen zwischen den formalen<br />
Parteiorganisationen und ihren Aktivisten<br />
und Eliten einerseits und bestimmten Segmenten<br />
der Wählerschaft andrerseits. Diese Sichtweise<br />
hebt die Repräsentations- und Integrationsfunktionen<br />
der Parteien hervor. Sie setzt den<br />
engeren, auf Organisation, Mitglieder und Aktivisten<br />
bezogenen Parteibegriff in Bezug zu den<br />
gesellschaftlichen Problem- und Konfliktlagen.<br />
Sie schärft damit zugleich auch den Blick für<br />
die gesellschaftliche Verankerung von Parteien<br />
und eventuellen Veränderungen dieser Verankerung,<br />
ein analytischer Zugriff, der dann auch<br />
sogleich Fragen nach dem Parteityp, der Mitgliederstruktur<br />
oder der Organisationskultur<br />
aufwirft.<br />
Ein derartiges Verständnis von Parteien leitet<br />
über zur Frage nach der adäquaten Erfassung<br />
der gesellschaftlichen Modernisierung und<br />
ihrer Folgen auch für das politische Geschehen<br />
sowohl auf der Ebene der Wähler als auch bei<br />
den Parteien und ihren Eliten. Dabei stoßen wir<br />
gerade auf dem Feld der Wahl- und Parteienforschung<br />
auf den zuvor schon angesprochenen<br />
Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen und<br />
politischen Entwicklungen und den auf sie ausgerichteten<br />
sozialwissenschaftlichen Theorien.<br />
Zugespitzt formuliert: Man sieht nichts ohne<br />
eine theoretische Brille. Weder beim Blick auf<br />
den gesellschaftlichen Wandel noch bei der Betrachtung<br />
der Parteien oder Wähler können wir<br />
von einer unmittelbar zugänglichen und eindeutigen<br />
empirischen Evidenz ausgehen.<br />
Die theoretischen Zugriffe lassen sich in zwei<br />
große Gruppen zusammenfassen 2 . Auf der einen<br />
Seite stehen die Vertreter des Individualisierungsparadigmas,<br />
ihr bekanntester Repräsentant<br />
in Deutschland ist wohl Ulrich Beck. Nach<br />
ihrer Sicht treten die Menschen im Verlauf der<br />
Modernisierung in allen Bereichen ihrer Existenz<br />
aus tradierten sozialen Strukturen und Rollen<br />
heraus und organisieren fortan ihre Lebensführung<br />
mit einem stetig steigenden Maß an<br />
Optionen und in einer fortlaufenden Sequenz<br />
von Einzelentscheidungen. Diese Freisetzung<br />
reicht von der Privatsphäre und dem Freizeitbereich<br />
über die Arbeitswelt bis hin eben auch<br />
zum politischen Bereich. Auf all diesen Feldern<br />
erleben wir eine zunehmende Auflösung tradierter<br />
Bindungen. Die hier wie da anstehenden<br />
Entscheidungen fallen in einem immer kurzfristigeren,<br />
auf situative Faktoren ausgerichteten<br />
Kalkül je individueller Vorteile und Nachteile.<br />
Auf der Ebene der Wahl- und Parteienforschung<br />
wird das Paradigma der Individualisierung<br />
durch ein Spektrum von Theorien widergespiegelt,<br />
die politisches Verhalten ganz wesentlich<br />
auf der Grundlage je individueller Merkmale<br />
erklären. Hierzu zählen vor allem verschiedene<br />
Varianten der Rational-Choice-Theorie,<br />
nach deren Annahmen sich sowohl Parteien als<br />
auch Wähler als rational kalkulierende Akteure<br />
auf einem politischen Markt bewegen (Falter/<br />
Schoen 2005: 243-303, Eith/Mielke 2005: 330-<br />
332). Aber auch im Hinblick auf das rationale<br />
Kalkül ,weichere‘ Ansätze wie das von nahezu<br />
allen deutschen Umfrageinstituten genutzte Ann-<br />
Arbor-Modell mit seiner Trias von Kandidaten,