Vollversion (1.42 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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keine naturwüchsigen Verbindungen. Sie bedürfen<br />
einer steten Pflege und Interpretation in<br />
der Form von politischen Erzählungen und<br />
Symbolen; sie müssen immer wieder erneuert<br />
und aktualisiert werden. Auch die traditionellen,<br />
vermeintlich naturwüchsigen Bindungen<br />
etwa zwischen Industriearbeitern und Kirchgängern<br />
und den ihnen jeweils zugeordneten Parteien<br />
sind bei genauerem Hinsehen das Ergebnis<br />
intensiver politischer Bemühungen gewesen,<br />
ja, selbst ,die‘ Arbeiterschaft oder ,die‘<br />
Katholiken mit ihrem Klassen- und Gruppenbewusstsein<br />
erscheinen dem Sozialhistoriker als<br />
kulturell und politisch erzeugte soziale Gruppen.<br />
Auch dieser zweite, auf soziale Felder und<br />
Gruppen bezogene Ansatz der Sozialforschung<br />
und das durch ihn vermittelte Bild der Wählerschaft<br />
und der Parteien lassen sich in ein medial<br />
vermitteltes, öffentliches Bild der Politik übertragen.<br />
Allerdings fehlt ihm der einfache ‚appeal’<br />
des Individualisierungsmodells. Mit der<br />
Verortung der Wähler in einem komplizierten<br />
Geflecht von Statusorientierungen, sozialen und<br />
kulturellen Normen und politischen Bindungen,<br />
mit den so gar nicht der politisch-medialen Heldentheorie<br />
entsprechenden, eher bescheidenen<br />
Handlungskorridoren der politischen Eliten findet<br />
Politik hier in den Kategorien des Gruppenpluralismus,<br />
der Interessenkonkurrenz und<br />
des Verteilungskampfes statt. Allein schon der<br />
in diesem Ansatz gepflegte Rekurs auf Gruppen,<br />
Milieus und kollektive Orientierungen<br />
verändert zudem die politische Optik. Der in<br />
dem Marktmodell implizierte Blickwinkel auf<br />
die je individuellen Tüchtigkeiten und Erfolge<br />
bzw. Misserfolge wird durch den Verweis auf<br />
unterschiedliche, je gruppenspezifische Ressourcen<br />
ergänzt und damit relativiert. Es entwickelt<br />
sich ein ganz anderes Politikverständnis.<br />
Der Hinweis auf diese, hier nur holzschnittartig<br />
wiedergegebenen Forschungs- und Interpretationslinien<br />
der politischen Verarbeitung gesellschaftlicher<br />
Modernisierung kann auch bei<br />
Ulrich Eith/Gerd Mielke<br />
der Einschätzung der politischen Entwicklungen<br />
in den zurückliegenden beiden Jahren der<br />
Großen Koalition nützlich sein. Es wird also<br />
nicht nur darum gehen können, die Schwankungen<br />
der Parteianhängerschaft oder der Kandidatenpopularität<br />
seit 2005 zu verfolgen, sondern<br />
die demoskopisch sichtbaren Veränderungen<br />
sollten stets auch mit dem Blick auf ihre<br />
strukturellen Verankerungen diskutiert werden.<br />
3 Demokratietheoretische Implikationen<br />
der Parteienforschung<br />
Wahl- und Parteienforschung ist immer auch<br />
Demokratieforschung. Die Wähler und die Parteien<br />
mit ihren Eliten spielen in allen Modellen<br />
der pluralistischen Demokratie eine entscheidende<br />
Rolle bei der Zuweisung von Legitimation,<br />
der Ermöglichung von Teilhabe, der Ausübung<br />
von Kontrolle, der Repräsentation und des<br />
Transfers eines pluralistischen Interessenspektrums<br />
in den Institutionen und bei der Organisation<br />
demokratischer Herrschaft, um hier nur<br />
einige zentrale demokratierelevante Funktionen<br />
von Wahlen zu nennen, an denen sowohl die<br />
Wähler als auch die Parteien mitwirken. Die<br />
Befunde der empirischen Wahl- und Parteienforschung<br />
haben zu einem differenzierten und<br />
realistischeren Bild der um die Wahlen gruppierten<br />
demokratischen Abläufe geführt und von<br />
Anbeginn einen erheblichen Einfluss auf die<br />
demokratietheoretischen Kontroversen ausgeübt,<br />
sei es im Sinne einer Revision vormaliger<br />
demokratietheoretischer Positionen, sei es im<br />
Sinne einer kritischen Auseinandersetzung und<br />
Zurückweisung dieser Befunde. 3<br />
Der Zusammenhang zwischen Wahl- und<br />
Parteienforschung und Demokratietheorie wirft<br />
die Frage auf, ob und auf welchen Feldern neuere<br />
Befunde zu Wahlen und Parteien auf Entwicklungen<br />
verweisen, die nicht nur auf veränderte<br />
Verhaltensmuster bei den Wählern und in<br />
den Parteien hindeuten, sondern darüber hinaus<br />
auch für demokratietheoretische Diskurse be-