Vollversion (1.42 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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6 Werner Kremp<br />
Zweites Zitat: „Mit der Wahl Bill Clintons<br />
haben die Amerikaner ein klares Signal für eine<br />
politische Zeitenwende gegeben. Wenn der neue<br />
Präsident am 20. Januar ins Weiße Haus einzieht,<br />
beginnt in den Vereinigten Staaten eine<br />
neue Ära. Der 42. Präsident wird – davon bin<br />
ich überzeugt – weit über die Grenzen seines<br />
Landes hinaus Chancen für eine tiefgreifende<br />
Erneuerung eröffnen.<br />
Dieser Wahlsieg bedeutet mehr als die Rückkehr<br />
eines Demokraten ins Weiße Haus. Der<br />
neugewählte Präsident spricht für eine neue<br />
Generation, die sich aus einem zeitgenössischen<br />
Verständnis von Weltinnenpolitik um einen<br />
Strukturwandel im eigenen Land bemüht. So<br />
wie Europa 1961 vom Schwung des Amtsantritts<br />
von John F. Kennedy erfasst wurde, wird<br />
der Veränderungswille, der Clinton zur Präsidentschaft<br />
getragen hat, Europa erreichen. Ich<br />
bin sicher, dass auch bei uns die Rufe nach<br />
einem Generationswechsel und nach politischem<br />
Wandel noch lauter werden. Das wird nicht<br />
zuletzt von neuen Akzenten abhängen, die Clinton<br />
vor allem in der Wirtschafts- und Sozialpolitik<br />
setzen will.“<br />
Diese beiden Zitate markieren, wie erwähnt,<br />
die Eckpunkte, Anfang und – schon wieder ein<br />
Stück zurückliegendes – Ende einer nun schon<br />
fast anderthalb Jahrhunderte währenden Auseinandersetzung<br />
der deutschen Sozialdemokratie<br />
mit, um nicht zu sagen: ihrer Fixiertheit auf<br />
Amerika. Meine These lautet: das Entstehen,<br />
die Entwicklung und die Gedankenwelt der<br />
SPD, der Grand Old Party Deutschlands, können<br />
nur unzureichend und unvollständig verstanden<br />
werden, wenn sie nicht vor dem Hintergrund<br />
der Entstehung und Konsolidierung<br />
der USA sowie ihres schließlichen Aufstiegs<br />
zur Weltmacht gesehen werden. Das heißt: Die<br />
deutsche Sozialdemokratie ist in hohem Maße<br />
auch – ich betone: auch – durch die Auseinandersetzung<br />
mit der Realität USA das geworden,<br />
was sie heute ist; und wer das heutige Verhältnis<br />
der SPD sei es verstehen, sei es neu bestim-<br />
men will, kann dies besser, wenn er die<br />
sozusagen lebenslange Auseinandersetzung dieser<br />
Partei mit dem ideellen und real existierenden<br />
Amerikanismus miteinbezieht. Ja, fast bin<br />
ich geneigt, die SPD seit ihren Anfängen als<br />
Heldin eines transatlantischen Bildungsromans<br />
zu betrachten, die sich an den USA abgearbeitet<br />
hat und nicht zuletzt durch diese Auseinandersetzung<br />
zu immer größerer Reife herangewachsen<br />
ist.<br />
Dies schließt nicht aus, dass es immer wieder<br />
einen Rückfall in pubertäre oder atavistische<br />
Haltungen gegenüber Amerika gibt. Denn die<br />
SPD ist eine altehrwürdige Institution, die nicht<br />
in Jahren und Jahrzehnten, sondern in Jahrhunderten<br />
rechnet und sich deshalb für ihre Erkenntnis-<br />
und Entwicklungsprozesse viel Zeit lassen<br />
kann; und so ist notwendigerweise die SPD in<br />
ihrem Verhältnis zu Amerika und dem Amerikanismus<br />
auch heute noch keineswegs fertig, sondern<br />
bedarf gerade in diesen Tagen eines weiteren,<br />
wie zu hoffen ist: erfolgreichen neuerlichen<br />
transatlantischen Reifungsprozesses.<br />
Doch sehen wir uns die beiden eben zitierten<br />
Äußerungen an. Wir finden hier nämlich, so<br />
meine ich, trotz des zeitlichen Abstands von 130<br />
Jahren, der zwischen ihnen liegt, frappierende<br />
strukturelle Ähnlichkeiten, was ihr historisches<br />
Umfeld und ihre Argumentationsstruktur anbelangt.<br />
Zunächst sei verraten, woher die Zitate stammen.<br />
Das erste ist ein Auszug aus der Adresse<br />
der Internationalen Arbeiterassozation an Abraham<br />
Lincoln, verfasst von keinem Geringeren<br />
als Karl Marx im Jahre 1864; 2 das zweite Zitat<br />
ist einem Beitrag Björn Engholms in der ‚ZEIT‘<br />
zum Wahlsieg Clintons entnommen 3 und ist nicht<br />
zuletzt deshalb aktuell, weil wir ähnliche Kommentare<br />
am Ende der Ära Bush nach einem<br />
Wahlsieg von Hillary Clinton (oder Barack<br />
Obama oder einem anderen Demokraten) erwarten<br />
dürfen.<br />
Auf die Gefahr hin, bedenkliches Kopfschütteln<br />
von Historikern zu ernten, möchte ich