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126<br />

REZENSIONEN<br />

...................................................................................................................................<br />

Die Entstehung der<br />

Publikumsdemokratie<br />

Der an der New York University ansässige französische<br />

Politikwissenschaftler Bernard Manin<br />

ist vor einiger Zeit mit einem viel zitierten Aufsatz<br />

international bekannt geworden, dem Jürgen<br />

Habermas bescheinigte, er bringe die Pointe<br />

auf den Begriff, politische Legitimation als<br />

Ergebnis allgemeiner Deliberation und nicht als<br />

Ausdruck eines allgemeinen Willens zu begreifen.<br />

Manins bereits 1995 in Frankreich erschienene,<br />

1997 unter dem Titel ‚The principles of<br />

representative government‘ in den USA publizierte<br />

und nun auch ins Deutsche übersetzte Studie<br />

ist von Hanspeter Kriesi ebenfalls ein Erwartungen<br />

weckendes Kompliment gemacht<br />

worden. Laut Kriesi bringt sie nämlich „Entwicklungen,<br />

die Parteien- und Medienexperten<br />

seit einiger Zeit beobachten, konzeptuell auf den<br />

Punkt“(Kriesi 2003: 208).<br />

Diesmal konzentriert sich Manin jedoch nicht<br />

auf den Begriff der Deliberation, sondern auf<br />

den Begriff der politischen Repräsentation. Er<br />

verbindet historische und begriffsgeschichtliche<br />

Erläuterungen, formale entscheidungstheoretische<br />

Modellierungen und Ergebnisse der<br />

empirischen Politikforschung zu dem Argument,<br />

dass repräsentativ-demokratische Systeme in<br />

bewusster Absetzung von demokratischen Ideen<br />

zu Partizipation und Volkssouveränität entworfen<br />

wurden. Repräsentatives Regieren wäre<br />

Manin zufolge als Regierung durch das Volk<br />

missverstanden; es handelt sich um eine Elitenherrschaft,<br />

in der „die Politik und öffentliche<br />

Entscheidungen zum Gegenstand des Urteils<br />

der Wähler gemacht werden“ (262).<br />

Politische Gleichheit und Losverfahren<br />

Um Grundprinzipien und Besonderheiten repräsentativ-demokratischer<br />

politischer Systeme<br />

zu konturieren, rekonstruiert Manin im Rück-<br />

<strong>Forschungsjournal</strong> NSB, Jg. 20, 4/2007<br />

griff auf Platon und Aristoteles, Madison und<br />

Sieyès sowie Harrington, Montesquieu und<br />

Rousseau zunächst historische Einschätzungen<br />

der demokratischen Dignität des Wahlmechanismus.<br />

Manin führt plastisch vor Augen, dass<br />

das Wahlverfahren bis ins 18.Jahrhundert ganz<br />

selbstverständlich als aristokratisches oder elitäres<br />

Auswahlverfahren betrachtet wurde. Als<br />

demokratisch wurde demgegenüber das Losverfahren<br />

verstanden, weil nur dieses ungeachtet<br />

von Herkunft und Merkmalen allen Bewerbern<br />

gleiche Chancen auf die Besetzung von<br />

politischen Ämtern eröffnen. Noch Montesquieu<br />

formulierte in diesem Sinne: „Die Abstimmung<br />

durch das Los entspricht dem Wesen der Demokratie,<br />

die durch die Wahl dem der Aristokratie“<br />

(101). Manins Darstellung macht hier<br />

ein klassisches Demokratieverständnis stark, das<br />

die ‚Identität‘ oder ‚Isonomie‘ von Regierenden<br />

und Regierten voraussetzte und ausgeprägt<br />

egalitaristisch orientiert war. Zugleich hebt er<br />

hervor, dass an der Wiege moderner Repräsentativsysteme<br />

eine bewusste Abkehr vom Losverfahren<br />

und dem Gedanken demokratischer<br />

Identität stand. Seine Ausführungen zu den<br />

Stadtstaaten der italienischen Renaissance, die<br />

das Losverfahren noch verwandten, plausibilisieren,<br />

dass es nicht nur durch gesellschaftliche<br />

Veränderungen – etwa die Entwicklung von<br />

modernen Flächenstaaten – schlechterdings unpraktikabel<br />

wurde, sondern eine Entscheidung<br />

für das repräsentative System zwischen gleichermaßen<br />

möglichen Alternativen getroffen<br />

wurde. Nicht zuletzt aus zahllosen Hollywood-<br />

Filmen sind uns mit ‚ordinary citizens’ besetzte<br />

Geschworenengerichte vertraut, deren Mitglieder<br />

nicht viel anders als in der antiken Polis per<br />

Los bestimmt werden und dennoch über<br />

schwerwiegende Rechtsfragen mitentscheiden.<br />

Schon das zeigt, dass der leicht absurd anmutenden<br />

Auslosung verantwortlicher politischer<br />

Ämter die Praktikabilität auch in modernen Gesellschaften<br />

nicht vollkommen abgesprochen<br />

werden kann.

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