Vollversion (1.42 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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REZENSIONEN<br />
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Die Entstehung der<br />
Publikumsdemokratie<br />
Der an der New York University ansässige französische<br />
Politikwissenschaftler Bernard Manin<br />
ist vor einiger Zeit mit einem viel zitierten Aufsatz<br />
international bekannt geworden, dem Jürgen<br />
Habermas bescheinigte, er bringe die Pointe<br />
auf den Begriff, politische Legitimation als<br />
Ergebnis allgemeiner Deliberation und nicht als<br />
Ausdruck eines allgemeinen Willens zu begreifen.<br />
Manins bereits 1995 in Frankreich erschienene,<br />
1997 unter dem Titel ‚The principles of<br />
representative government‘ in den USA publizierte<br />
und nun auch ins Deutsche übersetzte Studie<br />
ist von Hanspeter Kriesi ebenfalls ein Erwartungen<br />
weckendes Kompliment gemacht<br />
worden. Laut Kriesi bringt sie nämlich „Entwicklungen,<br />
die Parteien- und Medienexperten<br />
seit einiger Zeit beobachten, konzeptuell auf den<br />
Punkt“(Kriesi 2003: 208).<br />
Diesmal konzentriert sich Manin jedoch nicht<br />
auf den Begriff der Deliberation, sondern auf<br />
den Begriff der politischen Repräsentation. Er<br />
verbindet historische und begriffsgeschichtliche<br />
Erläuterungen, formale entscheidungstheoretische<br />
Modellierungen und Ergebnisse der<br />
empirischen Politikforschung zu dem Argument,<br />
dass repräsentativ-demokratische Systeme in<br />
bewusster Absetzung von demokratischen Ideen<br />
zu Partizipation und Volkssouveränität entworfen<br />
wurden. Repräsentatives Regieren wäre<br />
Manin zufolge als Regierung durch das Volk<br />
missverstanden; es handelt sich um eine Elitenherrschaft,<br />
in der „die Politik und öffentliche<br />
Entscheidungen zum Gegenstand des Urteils<br />
der Wähler gemacht werden“ (262).<br />
Politische Gleichheit und Losverfahren<br />
Um Grundprinzipien und Besonderheiten repräsentativ-demokratischer<br />
politischer Systeme<br />
zu konturieren, rekonstruiert Manin im Rück-<br />
<strong>Forschungsjournal</strong> NSB, Jg. 20, 4/2007<br />
griff auf Platon und Aristoteles, Madison und<br />
Sieyès sowie Harrington, Montesquieu und<br />
Rousseau zunächst historische Einschätzungen<br />
der demokratischen Dignität des Wahlmechanismus.<br />
Manin führt plastisch vor Augen, dass<br />
das Wahlverfahren bis ins 18.Jahrhundert ganz<br />
selbstverständlich als aristokratisches oder elitäres<br />
Auswahlverfahren betrachtet wurde. Als<br />
demokratisch wurde demgegenüber das Losverfahren<br />
verstanden, weil nur dieses ungeachtet<br />
von Herkunft und Merkmalen allen Bewerbern<br />
gleiche Chancen auf die Besetzung von<br />
politischen Ämtern eröffnen. Noch Montesquieu<br />
formulierte in diesem Sinne: „Die Abstimmung<br />
durch das Los entspricht dem Wesen der Demokratie,<br />
die durch die Wahl dem der Aristokratie“<br />
(101). Manins Darstellung macht hier<br />
ein klassisches Demokratieverständnis stark, das<br />
die ‚Identität‘ oder ‚Isonomie‘ von Regierenden<br />
und Regierten voraussetzte und ausgeprägt<br />
egalitaristisch orientiert war. Zugleich hebt er<br />
hervor, dass an der Wiege moderner Repräsentativsysteme<br />
eine bewusste Abkehr vom Losverfahren<br />
und dem Gedanken demokratischer<br />
Identität stand. Seine Ausführungen zu den<br />
Stadtstaaten der italienischen Renaissance, die<br />
das Losverfahren noch verwandten, plausibilisieren,<br />
dass es nicht nur durch gesellschaftliche<br />
Veränderungen – etwa die Entwicklung von<br />
modernen Flächenstaaten – schlechterdings unpraktikabel<br />
wurde, sondern eine Entscheidung<br />
für das repräsentative System zwischen gleichermaßen<br />
möglichen Alternativen getroffen<br />
wurde. Nicht zuletzt aus zahllosen Hollywood-<br />
Filmen sind uns mit ‚ordinary citizens’ besetzte<br />
Geschworenengerichte vertraut, deren Mitglieder<br />
nicht viel anders als in der antiken Polis per<br />
Los bestimmt werden und dennoch über<br />
schwerwiegende Rechtsfragen mitentscheiden.<br />
Schon das zeigt, dass der leicht absurd anmutenden<br />
Auslosung verantwortlicher politischer<br />
Ämter die Praktikabilität auch in modernen Gesellschaften<br />
nicht vollkommen abgesprochen<br />
werden kann.