Vollversion (1.42 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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Parteiensystem im Umbruch?<br />
Demgegenüber erlitt die Union ihren Einbruch,<br />
der zur Großen Koalition führte, in einer<br />
kurzen, dramatischen Wahlkampfzuspitzung im<br />
Spätsommer 2005. Allerdings war für die CDU/<br />
CSU schon ab der verlorenen Bundestagswahl<br />
1998 deutlich erkennbar, dass sie bis heute mit<br />
drei Problemen am Wählermarkt zu ringen hat.<br />
Zum einen zeigt sich eine deutliche Schwäche<br />
der Union bei den Bundestagswahlen in Ostdeutschland;<br />
zum andern findet die CDU nur<br />
sehr begrenzten Zuspruch bei der großen Wählergruppe<br />
jüngerer Frauen. Drittens schließlich<br />
konnte die Union zwar eine Serie von teilweise<br />
unerwarteten und spektakulären Siegen bei Landtagswahlen<br />
erringen, aber diese Wahlsiege gingen<br />
in erster Linie auf den Zusammenbruch der<br />
SPD-Unterstützung gerade auch in den unteren<br />
sozialen Schichten zurück. Sie waren nicht von<br />
einem Vormarsch der Union in diesen Wählersegmenten<br />
getragen. Zuwächse der CDU bei<br />
den Stimmenanteilen waren zumeist mit abnehmenden<br />
oder stagnierenden Wähleranteilen verbunden.<br />
Gerade dieser letztgenannte Aspekt<br />
hätte der CDU signalisieren können, dass sie<br />
mit der Hinwendung zu einem auf Sozialstaatsrückbau<br />
ausgerichteten Politikverständnis, wie<br />
es in den so genannten ‚Leipziger Grundsätzen‘<br />
des CDU-Parteitags von 2003 zum Ausdruck<br />
kam, auf dünnes Eis geraten würde.<br />
Der schlussendliche Einbruch der Union bei<br />
der Bundestagswahl 2005 ist mit der für die<br />
Union verhängnisvollen Ernennung des ‚Professors<br />
aus Heidelberg‘ Paul Kirchhof durch<br />
Angela Merkel zum Finanzminister ihres Schattenkabinetts<br />
verbunden. Kirchhof richtete in<br />
kürzester Zeit große Verwirrung an. Seine steuerpolitischen<br />
Vorstellungen standen nicht nur<br />
im Widerspruch zum Wahlkampfprogramm der<br />
Union, vor allem bot er sich den in schwerer<br />
Not befindlichen Sozialdemokraten als nahezu<br />
ideale Symbolfigur für den kaltherzigen Umbruch<br />
des Sozialstaats an. Zahlreiche sozialstaatsorientierte<br />
Unionsanhänger blieben verunsichert<br />
den Wahlurnen fern. So verspielte die<br />
27<br />
Union buchstäblich auf der Zielgeraden die<br />
schon sicher geglaubte Koalitionsoption mit der<br />
FDP, aber eben kurioser Weise durch dieselbe<br />
Missachtung der deutschen Sozialstaatstradition,<br />
die schon der SPD unter Schröder und<br />
Müntefering in den Jahren zuvor zum Verhängnis<br />
geworden war.<br />
Als entscheidende Folge der bei beiden großen<br />
Parteien, vor allem aber bei der SPD erkennbaren<br />
Abkehr von der deutschen Sozialstaatstradition<br />
entwickelte sich eine ‚Gelegenheitsstruktur‘<br />
3 , die 2005 zur Entstehung zuerst<br />
der WASG und schließlich im Sommer 2007<br />
zum Zusammenschluss der WASG und der<br />
PDS zu einer gemeinsamen und bundesweiten<br />
Linkspartei führte. Die Linkspartei hat zwar,<br />
entsprechend der starken Position der vormaligen<br />
PDS in Ostdeutschland, auch weiterhin eindeutige<br />
regionale Schwerpunkte in den neuen<br />
Ländern, aber sie bewegt sich auf der Grundlage<br />
des Zusammenschlusses doch auch in einer<br />
Reihe von westdeutschen Ländern zumindest<br />
in der Nähe der Fünf-Prozent-Grenze. In den<br />
Stadtstaaten und im Saarland hat sie darüber<br />
hinaus einen wesentlich stärkeren Rückhalt.<br />
Mit dem teils langfristigen, teils kurzfristigen<br />
Absacken der Stimmenanteile der großen<br />
Parteien verloren die beiden vertrauten Varianten<br />
kleiner Koalitionen ihre Mehrheitsperspektive.<br />
Demgegenüber wuchs der kumulierte Anteil<br />
der kleinen Parteien, aber wegen ihrer eindeutigen<br />
Zuordnung zu den jeweiligen Lagern<br />
und bei gleichzeitiger Tabuisierung jeglicher<br />
Koalitionsoptionen mit der Linkspartei konnten<br />
sich nach der Bundestagswahl 2005 keine neuen<br />
Koalitionsperspektiven eröffnen.<br />
3 Koalitionspolitische Perspektiven<br />
Das ‚fluide Fünfparteiensystem‘ 4 hat sich im<br />
Blick auf seine Bestandteile seit der Bundestagswahl<br />
2005 und der Bildung der Großen<br />
Koalition als sehr stabil und damit eigentlich als<br />
gar nicht so fluide erwiesen. Alle fünf Parteien