Vollversion (1.42 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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Fremdelnde Freunde<br />
ralistischer zu werden, individualistischer, ethnisch<br />
gemischter, föderalistischer, konfliktreicher,<br />
härter, basisdemokratischer, weniger etatistisch<br />
– kurz, moderner und damit amerikanischer.<br />
Nicht zuletzt deshalb ist es für die SPD<br />
nicht nur sinnvoll, sondern unerlässlich, ja lebenswichtig,<br />
sich mit den USA auseinander zu<br />
setzen, sie auf erwachsene Art wahrzunehmen<br />
und nicht kindlich-überheblich. Denn, wie Karl<br />
Kautsky vor über 100 Jahren schon sagte<br />
(1902): „Amerika zeigt uns unsere Zukunft“.<br />
In diesem Sinne stehen die sozialdemokratisch-amerikanischen<br />
Beziehungen erst am Anfang<br />
– jedenfalls ist zu wünschen, dass die Glaubensgemeinschaft<br />
Sozialdemokratie noch ein langes<br />
Leben vor sich hat und sich durch eine immer<br />
wieder von neuem erfolgende adäquate zur<br />
Kenntnisnahme der USA ihr Überleben, aber<br />
auch die Zukunft Deutschlands und Europas in<br />
der westlich-atlantischen Gemeinschaft sichert.<br />
Vielleicht kommt sie ja dann schließlich dazu,<br />
die Vision ihres Gründervaters Wilhelm Liebknecht<br />
zu teilen, der nach seinem Amerikabesuch<br />
1886 folgendes in sein Reisetagebuch notierte:<br />
„Wie die Familien in Stämme, die Stämme<br />
in Nationen aufgehen, so gehen die Nationen<br />
allmählich in große Völkergemeinschaften<br />
auf – das ist der Gang der Kulturentwicklung.<br />
Eine solche Völkergemeinschaft bilden die Vereinigten<br />
Staaten – eine Völkergemeinschaft, die<br />
einst die gesamte neue Welt umfassen wird. Und<br />
wer weiß“, ergänzt Liebknecht visionär, „ob<br />
bloß die neue“. 8 Liebknecht, so lässt sich eine<br />
seiner Äußerungen an anderer Stelle seines Reiseberichts<br />
interpretieren, hätte nichts dagegen<br />
gehabt, ein civis Americanus zu werden, so wie<br />
man als Bewohner des römischen Imperiums<br />
sich civis Romanus nennen durfte. Für Liebknecht<br />
war Weltinnenpolitik amerikanische oder<br />
zumindest von Amerika entscheidend mitgestaltete<br />
Weltinnenpolitik. Und auch heute ist kaum<br />
etwas anderes vorstellbar.<br />
Nicht umsonst heißt es im soeben verabschiedeten<br />
Hamburger Programm der SPD:<br />
15<br />
„Eine friedliche Weltordnung ist nur mit den<br />
Vereinigten Staaten erreichbar; deshalb sind die<br />
Beziehungen zu den USA für uns von besonderem<br />
Gewicht.“<br />
Aber auch in innen- und gesellschaftspolitischer<br />
Hinsicht lohnt es sich, ohne ängstlich-kindliches<br />
Fremdeln immer wieder mit neugierigem<br />
Blick auf die amerikanische Erfahrung zu schauen,<br />
zu vergleichen – und gegebenenfalls das eine<br />
oder andere zu lernen. So bleibt als praktische<br />
Schlussfolgerung nur die Forderung: Schickt<br />
Jumboladungen von – vor allem jungen – Sozialdemokraten<br />
in die Vereinigten Staaten, zur „kulturellen<br />
Lernung von da U, S und A“, wie Borat<br />
zu sagen pflegt. Auch die Einwohner von Sozialdemokratistan<br />
können davon nur profitieren.<br />
Dr. habil. Werner Kremp ist Direktor der<br />
Atlantischen Akademie des Landes Rheinland-<br />
Pfalz und Lehrbeauftragter an der Universität<br />
Kaiserslautern.<br />
Anmerkungen<br />
1Dazu Werner Kremp, In Deutschland liegt<br />
unser Amerika. Das sozialdemokratische Amerikabild<br />
von den Anfängen der SPD bis zur<br />
Weimarer Republik, Münster und Hamburg: LIT<br />
Verlag 1993.<br />
2 Zitiert nach: Der Sozialdemokrat, Nr. 3 v.<br />
30.12.1864.<br />
3 DIE ZEIT vom 27.11.1992.<br />
4Kanzlerrunde bei gedämpfter Stimmung,<br />
Süddeutsche Zeitung 17.9.2001.<br />
5Allensbacher Berichte, Nr. 21/2001.<br />
6Dies gilt freilich nicht nur für die sozialdemokratischen,<br />
sondern für (fast) alle ,Bilder von<br />
Amerika‘ (und nicht nur von Amerika, sondern<br />
von anderen Nationen überhaupt).<br />
7Und umgekehrt ist mit einiger Sicherheit<br />
für die amerikanische Seite auch alles Sozialdemokratische<br />
ziemlich fremd!<br />
8Wilhelm Liebknecht, Ein Blick in die neue<br />
Welt, Stuttgart 1887, 45f.