Vollversion (1.42 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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Pulsschlag<br />
sion in der politischen Öffentlichkeit geführt<br />
werden. Diese bewegen sich nämlich immer<br />
schon auf einer Ebene, auf der Missachtungserfahrungen<br />
bereits durch „soziale <strong>Bewegungen</strong>“<br />
artikuliert werden. Sie muss ihre Aufmerksamkeit<br />
vielmehr auch jenen Phänomenen sozialer<br />
Verelendung zuwenden, aus denen „unformuliertes<br />
und unformulierbares Unbehagen“ spricht<br />
(Bourdieu 1997: 823; Honneth 2003: 140ff.).<br />
Als individuell empfundenes Leid liegen diese<br />
zunächst jenseits der Wahrnehmungsschwelle<br />
der politischen Öffentlichkeit.<br />
Im dritten Szenario tritt das Anwachsen unziviler<br />
Formen von Sozialkapital im eigentlichen<br />
Sinne in den Vordergrund. Hier haben wir<br />
es nicht nur mit einer ‚Versäulung‘ der Gesellschaft<br />
wie im ersten Szenario zu tun, sondern<br />
mit expliziter Abgrenzung. Unter Bedingungen,<br />
in denen sich die Kreise sozialer Bezüge beständig<br />
ausdehnen und Grenzen fluide werden,<br />
geraten Prozesse kollektiver Identitätsbildung<br />
in eine Krise. Die Moderne fordert die Abstraktion<br />
von Differenzen sozialer, religiöser, ethnischer<br />
Art zugunsten einer relativ abstrakten Menschengleichheit.<br />
Sie erzeugt damit aber zugleich<br />
einen virulenten Bedarf an ‚Differenzversicherung‘<br />
(Offe 1996): das Bedürfnis Grenzen und<br />
Nicht-Zugehörigkeiten zu definieren und mitunter<br />
auch aggressiv zu verteidigen. Unziviles<br />
Sozialkapital entsteht, wenn sich das kollektive<br />
Handeln von Gruppen nicht mehr an der Mitgestaltung<br />
der gesamtgesellschaftlichen Lebensverhältnisse<br />
orientiert und auf eine gemeinsame<br />
Öffentlichkeit Bezug nimmt, sondern im wesentlichen<br />
dazu dient, „Ressourcen der Selbstprivilegierung<br />
gegenüber der umgebenden Gesellschaft“<br />
zu akkumulieren und zu konservieren<br />
(Fijalkowski 2004: 205). Hier besteht die<br />
Gefahr der Konfliktintensivierung und des Aufkündigens<br />
von Grundsolidarität. Es ist eine ausgreifende<br />
Frage, von wem bzw. welchen Prozessen<br />
dies ausgeht und inwiefern exklusive<br />
Gruppenbildungen reaktiven Charakter haben.<br />
In jedem Fall ist unziviles Sozialkapital nichts,<br />
91<br />
was sich nur auf der Seite der unterprivilegierten<br />
Teile der Gesellschaft findet. Die Pflege von<br />
Normen der Distinktion ist auch eine Möglichkeit,<br />
um Sozialkapital als ein Gruppengut sozial<br />
Privilegierter Teile der Gesellschaft zu (re)produzieren<br />
und materielle und symbolische Besitzstände<br />
zu verteidigen. Die Ambivalenz der<br />
Rede von der ‚neuen Bürgerlichkeit‘ tritt in diesem<br />
Zusammenhang deutlich zutage: Der Diskurs<br />
der Zivilgesellschaft richtet sich wesentlich<br />
auf die Aktivierung der bürgerschaftlichen<br />
Verantwortung eben jener ökonomischen und<br />
kulturellen Kapitalbesitzer, deren Tendenz zur<br />
sozialen Abschließung gleichzeitig diagnostiziert<br />
wird.<br />
Sandra Seubert ist Politikwissenschaftlerin und<br />
arbeitet an der Universität Potsdam. Kontakt:<br />
seubert@rz.uni-potsdam.de<br />
Anmerkungen<br />
1 Erst in jüngster Zeit wird dies vermehrt in<br />
den Blick gerückt. So etwa Klein et al. 2004<br />
sowie Lüdicke/Diewald 2007. Außerdem bereits<br />
Dubiel 2001; Alexander 1998.<br />
2 Es ist schließlich eine grundlegende moralische<br />
Intuition, dass wir Personen um so mehr<br />
Aufmerksamkeit und Hilfe schulden, je mehr<br />
wir mit ihnen zu tun haben, also je mehr wir in<br />
eine ,Geschichte‘ von Interaktionen involviert<br />
sind.<br />
3 Als normative Grundlage von Reziprozitätspflichten<br />
kann ein generelles ‚Recht auf<br />
Rechtfertigung‘ gelten (Forst 1999).<br />
4 Der Begriff des Habitus bezeichnet ein subjektives<br />
aber nicht-individuelles System verinnerlichter<br />
Strukturen, gemeinsamer Wahrnehmungs-,<br />
Denk- und Handlungsschemata, von<br />
Personen, die im sozialen Raum mit Blick auf<br />
Kapitalvolumen und -zusammensetzung ähnlich<br />
situiert sind (Bourdieu 1993: 97ff.).<br />
5 Der Begriff des symbolischen Kapitals ist<br />
bei Bourdieu nicht eindeutig geklärt. Plausibel<br />
ist es, hierin keine vierte Kapitalform (neben