Vollversion (6.51 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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FORSCHUNGSJOURNAL NSB 3/94 LZHS3<br />
<strong>Soziale</strong><br />
<strong>Bewegungen</strong><br />
und Kollektive<br />
Identität<br />
Einladung zurTagung<br />
der Forschungsgruppe<br />
Neue <strong>Soziale</strong> <strong>Bewegungen</strong><br />
vom 18.-20. November<br />
1994 in Saarbrücken<br />
Die Auflösung traditioneller<br />
Gruppenzugehörigkeiten (Familie<br />
oder Traditionsmilieus wie<br />
Dorfgemeinschaften, Arbeiterbewegung<br />
etc.) hat in modernen<br />
Gesellschaften dazu geführt, daß<br />
die individuelle Verortung im<br />
sozialen Raum unter den Bedingungen<br />
von zunehmenden Wahlfreiheiten<br />
und einem kulturellen<br />
Pluralismus erfolgt. Die Hoffnung,<br />
daß individuelle soziale<br />
Bindungen und Mitgliedschaften<br />
in kulturellen Gemeinschaften<br />
sich zwanglos durch freie Wahl<br />
ergeben, wird in der modernen<br />
soziologischen „Individualisierungsthese"<br />
fortgeschrieben.<br />
Doch die Erfahrungen, mit denen<br />
wir in den letzten Jahren zunehmend<br />
konfrontiert werden,<br />
lassen Skepsis gegenüber allzu<br />
harmonistischen Deutungen der<br />
kulturellen Modernisierung aufkommen.<br />
Nicht nur die Strukturen sozialer<br />
Ungleichheit beschränken die<br />
Wahlfreiheit des Individuums.<br />
Auch kulturelle Deutungsangebote,<br />
die sich bspw. unter Bezugnahme<br />
auf askriptive Merkmale<br />
(Rasse, Ethnie), auf feststehende<br />
Glaubensgewissheiten<br />
(Religion) oder auf eine behauptete<br />
Traditionsgeltung einer kritischen<br />
Überprüfung entziehen,<br />
limitieren den Bezugsrahmen<br />
kollektiver Identitätsbildung.<br />
Nicht nur in Deutschland erlangen<br />
derzeit nationalistische und<br />
offen rassistische Überzeugungen<br />
zunehmend (auch massen-)<br />
publizistische Beachtung.<br />
Sie dementieren den kulturellen<br />
Pluralismus und demontieren die<br />
für diesen grundlegenden zivilen<br />
und demokratischen Umgangsformen.<br />
Wie kann ausgrenzenden und<br />
aggressiven Formen der Vergemeinschaftung<br />
entgegengewirkt<br />
werden? Welche Anforderungen<br />
müssen Gemeinschaftsbezüge<br />
erfüllen, die zum einen Gruppenbildungen<br />
erzeugen, zum anderen<br />
jedoch überlappende<br />
Gruppenbindungen ermöglichen<br />
und kulturellen Pluralismus tolerieren<br />
sollen?<br />
Diese Fragen verweisen auf die<br />
Anforderungen, die wir an die<br />
politische Kultur demokratischer<br />
und pluralistischer Gesellschaften<br />
stellen. Die Gleichheit der<br />
Bürgerinnen setzt die Anerkennung<br />
kultureller Differenz voraus.<br />
An Prominenz gewinnt das<br />
Thema in allen Bewegungssektoren<br />
über die Auseinandersetzung<br />
mit den rassistischen und<br />
nationalistischen Ausgrenzungsbestrebungen<br />
des Rechtsextremismus<br />
und seinen Resonanzen<br />
bis in das Zentrum der Gesellschaft.<br />
Probleme der Vergemeinschaftung<br />
sind in der Bewegungsforschung<br />
bisher nicht ausreichend<br />
erforscht worden. <strong>Soziale</strong> <strong>Bewegungen</strong><br />
sind offensichtlich nicht<br />
nur als zielbewußte und rationale<br />
kollektive Akteure zu verstehen,<br />
die sich in den politischen<br />
Prozeß mit ihren Anliegen einbringen.<br />
Gemeinschaftsbezüge<br />
dienen sozialen <strong>Bewegungen</strong> als<br />
Ressource und sind schwerlich<br />
mit 'Rational Choice'-Ansätzen<br />
erfaßbar. In den 70er/80er Jahren<br />
waren es postmaterialistische<br />
Werthorizonte, die soziale <strong>Bewegungen</strong><br />
auszeichneten. Dabei<br />
waren die Bildung gemeinsamer<br />
Milieus und Lebenswelten entscheidende<br />
Voraussetzungen für<br />
das Entstehen von kollektiven<br />
Bewegungsakteuren als Solidargemeinschaften,<br />
die sich den<br />
gängigen politischen Zurechnungsschemata<br />
entziehen.<br />
In diesem Kontext eröffnet sich<br />
eine Reihe von Fragestellungen,<br />
für deren Beantwortung das interdisziplinäre<br />
Wechselspiel von<br />
Bewegungsforschung, Sozialpsychologie<br />
und allgemeiner<br />
Soziologie von Nutzen sein<br />
kann.<br />
Individuen machen sich ein Bild<br />
von sich selber und richten ihr<br />
soziales Handeln entsprechend<br />
aus. Sie orientieren sich dabei<br />
an sozialen Nahbereichen, Gemeinsamkeiten,<br />
Ähnlichkeiten<br />
etc. und identifizieren sich auf<br />
diese Weise mit Zielen und Werten<br />
anderer. Im Alltag findet dies<br />
Ausdruck in der Musik, die<br />
mensch hört, in Mode, 'Szene'-<br />
Zugehörigkeiten usw. Offen<br />
bleibt, unter welchen Voraussetzungen<br />
sich 'Gleichgesinnte' finden<br />
und erkennen. In welchem<br />
Zusammenhang stehen beispiels-