Vollversion (6.51 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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FORSCHUNGSJOURNAL NSB 3/94<br />
Reinhart Kößler<br />
Lauter Bäume oder großer Wald?<br />
Entwicklungstheorie zwischen partikularer Diagnose und<br />
globalen Problemen<br />
Die Entwicklungstheorie, aber auch unterschiedlichste<br />
Projekte und Strategien gesellschaftlicher<br />
und wirtschaftlicher Entwicklung<br />
befinden sich bereits seit einigen Jahren in einer<br />
tiefen Krise. Die alten Denkstrategien sind<br />
ebenso an eine Grenze gekommen, wie die auf<br />
Wachstum und globale Industrialisierung gerichteten<br />
entwicklungspolitischen Konzepte,<br />
auf die sie ausgerichtet waren und die sie anleiten<br />
sollten. Sie sehen sich einem ganzen<br />
Bündel von Problemen konfrontiert, die ein<br />
grundlegendes Umsteuern unabdingbar erscheinen<br />
lassen. Doch eine gültige Neuorientierung,<br />
ein neues Paradigma globaler Entwicklung ist<br />
nicht in Sicht. Krise bezeichnet eine Situation<br />
mit offenem Ausgang, und sie bezeichnet zugleich<br />
eine Entscheidungssituation. Darin sind<br />
Risiken und Zwänge enthalten, auf der Ebene<br />
der Theorie und erst recht auf der Ebene praktischer<br />
Politik.<br />
Die Implosion der Gesellschaften sowjetischen<br />
Typs 1989/91 kann als verschärfendes Moment<br />
der Krise wichtiger Theorieansätze gelten. Damit<br />
ist freilich nicht einsichtig gemacht, daß<br />
das weltweit hegemoniale Entwicklungsmodell<br />
des industriellen Kapitalismus nun auch die<br />
einzig realistische Perspektive darstellen soll<br />
(so bes. Menzel 1992). Anstelle einer „Dritten<br />
Welt", in der man einmal echte Alternativen<br />
verkörpert gesehen hatte, blieben dann nur noch<br />
nationalstaatlich abgegrenzte Einzelgesellschaften,<br />
die sich nach ihrem Erfolg oder<br />
(häufiger) ihrem Mißerfolg bei der Aufholjagd<br />
der nachholenden Entwicklung kraß voneinander<br />
unterscheiden.<br />
Die höchst problematische These vom „Ende<br />
der Dritten Welt" pointiert zugleich politische<br />
Optionen und „historische Herausforderungen"<br />
(Hein 1985, S. 48), die mit den theoretischen<br />
Orientierungen hier wie in wenigen anderen<br />
Fällen verknüpft sind. Ich möchte dies anhand<br />
eines kurzen Rückblicks verdeutlichen, um<br />
dann näher auf die aktuelle Auseinandersetzung<br />
einzugehen. Dabei gehe ich in erster Linie<br />
auf die deutschsprachige Diskussion ein<br />
und versuche, Bezüge zu der auf die „Dritte<br />
Welt" orientierten Solidaritätsbewegung herzustellen.<br />
1. Theorie und Politik<br />
Die Studentenbewegung der späten 1960er Jahre<br />
war eng verknüpft mit einem sprunghaft<br />
ansteigenden Interesse an Problemen der „Dritten<br />
Welt" wie auch an deren gesellschaftstheoretischer<br />
Aufarbeitung. Gerade die westdeutsche<br />
Studentenbewegung fand wichtige<br />
Anstöße in Skandalen wie dem Schah-Regime