Vollversion (6.51 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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60 FORSCHUNGSJOURNAL NSB 3/94<br />
Egoismus und den Hang zu konservativen Krisenlösungskonzepten<br />
in breiten Bevölkerungsteilen<br />
gefördert. Der Solidargedanke geht mehr<br />
und mehr verloren. Dies manifestiert sich auch<br />
in der mangelnden Akzeptanz der Solidaritätsgruppen<br />
im Osten (sinkendes öffentliches Interesse,<br />
Streichung öffentlicher Zuschüsse, geringe<br />
personelle Unterstützungsbereitschaft).<br />
Auch in den neuen Ländern stehen die Gruppen<br />
vor dem Problem, daß sich der Gegenstand<br />
„Dritte-Welt" faktisch auflöst bzw. stark<br />
ausdifferenziert. Die desolate Lage vieler Entwicklungsländer<br />
und das Scheitern der realkapitalistischen<br />
und realsozialistischen Entwicklungskonzepte<br />
wirkt irritierend und lähmend<br />
auf die Akteure in Ost- und Westdeutschland.<br />
Die damit einhergehende Desillusionierung<br />
stellt die bisherigen Ziele, Inhalte und Aktionsformen<br />
in Frage. Ein drastisches Schrumpfen<br />
der ohnehin kleinen Basis in der Bevölkerung,<br />
die Verfestigung eines Insel-Daseins in<br />
einer „Schutz- und Trutzburg von Gleichgesinnten"<br />
(Nuscheier) und das Fehlen großer<br />
inhaltlicher Debatten und Kampagnen sind Probleme,<br />
mit denen die Akteure der Solidaritätsarbeit<br />
in Ost- und Westdeutschland gleichermaßen<br />
konfrontiert sind. 14<br />
6. Zusammenfassung und Ausblick<br />
Faßt man die hier skizzierte Entwicklung ostdeutscher<br />
Solidaritätsgruppen zusammen, so<br />
lassen sich folgende Schlußfolgerungen ziehen:<br />
Die Solidaritätsbewegung befand sich kurz<br />
vor der Wende in einer Stagnationsphase. Diese<br />
Stagnation konnte durch den mit der Wende<br />
verbundenen Aufbruchprozeß überwunden werden.<br />
In der Folge erlebte die Bewegung einen<br />
beachtenswerten quantitativen und qualitativen<br />
Aufschwung. Eine Verlangsamung der Entwicklung<br />
trat im wesentlichen erst ein, nachdem<br />
die Gruppen, bedingt duch den Beitritt<br />
der DDR zur BRD, den Zwängen des bundesrepublikanischen<br />
Gesellschaftsmodells unter<br />
worfen wurden. 15<br />
Auch die Erkenntnis, daß angesichts<br />
der weltweiten Interdependenzen und<br />
globalen Probleme, insbesondere der kollapsartigen<br />
Krisenzustande im Süden, die bisherigen<br />
Inhalte und Formen der Solidaritätsarbeit<br />
nicht mehr reichen, führte vielfach zu einer<br />
Sinnkrise. Eine Sinnkrise, die sich verschärfte,<br />
als deutlich wurde, daß aus dem Ende des klassischen<br />
Ost-West-Konflikts nicht automatisch<br />
ein Aufbruch in Ost und Süd in Richtung auf<br />
eine nachhaltige Entwicklung resultierte.<br />
Unter Ostdeutschen festigt sich immer mehr<br />
die Auffassung, daß die Solidaritätsgruppen allein<br />
nur partiell aus der von ihnen konstatierten<br />
„Krise" herausfinden werden. Vielleicht<br />
entwickeln sich aus der Erschließung neuer<br />
Themenfelder, wie sie unter dem Motto „Entwicklung<br />
des Nordens" derzeit diskutiert werden,<br />
neue Handlungsperspektiven. Eine solche<br />
Politik umfaßt z.B. die Verbraucherpolitik (Aufklärung<br />
über Nord-Süd-Zusammenhänge und<br />
der Änderung von Konsumgewohnheiten),<br />
Kampagnen zum Rüstungsexport (Landminen-<br />
Kampagnen), Konzepte zur Entwicklung eines<br />
global verträglichen Entwicklungsmodells<br />
für die Industrieländer (Umbau der Industriegesellschaft)<br />
etc. Welche neuen Politik- und<br />
Handlungsfelder sich bei der Konkretisierung<br />
der Idee „Entwicklung für den Norden" ergeben,<br />
ist noch nicht klar abzusehen, da es noch<br />
umfangreicher Diskussionen bedarf. An dieser<br />
Stelle sei aber vor einer allzu großen Euphorie<br />
gewarnt, denn diese Strategie wird sicherlich<br />
nicht zu einem vergleichbaren Aufschwung der<br />
Bewegung führen, wie ihn die Gruppen in den<br />
Jahren 1989/90 erlebt haben. Nichtdestotrotz<br />
ist bei vielen Bewegungsakteuren die Hoffnung<br />
vorhanden, daß mit der Erarbeitung eines<br />
neuen Politikkonzeptes positive Rückwirkungen<br />
auf die Bewegung selbst zu erwarten<br />
sind. Indirekt, so die Hoffnung, führt die Mobilisierung<br />
und Neuorientierung auch der Solidaritätsbewegung<br />
neue Akteure zu. Direkt