Vollversion (6.51 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
Vollversion (6.51 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
Vollversion (6.51 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
FORSCHUNGSJOURNAL NSB 3/94 53<br />
2. 89er Aufbruch und Visionen<br />
Die Stagnation der DDR-Solidaritätsbewegung<br />
endete schlagartig mit der Wende. Die Zerstörung<br />
des realsozialistischen Modells der DDR<br />
hatte unmittelbar in zweierlei Hinsicht eine<br />
dynamisierende Wirkung auf die Entwicklung<br />
der Solidaritätsgruppen: Zum einen wurde mit<br />
dem Zerfall des SED-DDR Staats- und Machtapparates<br />
ein Freiraum für eine quantitative<br />
und qualitative Entwicklung der Gruppen geschaffen.<br />
Dies u.a. dadurch, daß die Selbstorganisation<br />
von Bürgerinnen und Bürgern nicht<br />
mehr unterdrückt und in den neuentstehenden<br />
Staatsstrukturen ein Experimentierfeld eröffnet<br />
wurde. Für die Akteure erschlossen sich<br />
völlig neue Tätigkeitsfelder (z.B. parlamentarische<br />
Lobbyarbeit). Zum anderen wurden<br />
durch die Umbruchssituation viele Menschen<br />
aus ihrer Lethargie gerissen. Viele Bürgerinnen<br />
suchten nun nach aktiven Formen der Lebensgestaltung,<br />
die sie u.a. auch in den Solidaritätsgruppen<br />
zu finden glaubten.<br />
Der Aufschwung der Solidaritätsgruppen manifestierte<br />
sich 1989 vordergründig in einem<br />
quantitativen Wachstum. Vor allem im Berliner<br />
Raum bildeten sich - neben INKOTA - ab<br />
Ende 1989 neue Vereinigungen, darunter viele<br />
mit dem Anspruch, in der ganzen DDR tätig<br />
werden zu wollen. Beispielhaft seien hier die<br />
„ Gesellschaft für Solidarische Entwicklungszusammenarbeit"<br />
(GSE) oder die „Entwicklungspolitische<br />
Gesellschaft" (EPOG) genannt.<br />
Bis Mitte 1990 kristallisierten sich vier Strömungen<br />
innerhalb der Solidaritätsgruppen der<br />
DDR heraus, die sich vor allem hinsichtlich<br />
ihrer Herkunft, ihrer Motivation und ihrer Zielsetzung<br />
unterschieden: 9<br />
1. Gruppen wie INKOTA und KATE, die schon<br />
vor 1989 eine unabhängige Solidaritätsarbeit<br />
zu organisieren versuchten, und neue Vereine,<br />
die von Akteuren gegründet wurden, die bislang<br />
in der Demokratie- und Menschenrechtsbewegung<br />
tätig waren (z.B. BAOBAB). Sie<br />
nutzten die Chance zur Profilierung, indem sie<br />
vorhandene Organisationsstrukturen und Einflußmöglichkeiten<br />
ausbauten oder neue Vereine<br />
gründeten, die sich auf die politische Lobbyarbeit<br />
konzentrierten. Ihr bis 1989 erworbenes<br />
entwicklungspolitisches Know-how brachten<br />
sie mit dem Selbstbewußtsein in die sich neu<br />
formierenden Solidaritätsgruppen ein, nicht mit<br />
dem SED-Staat liiert gewesen zu sein. Vor diesem<br />
Hintergrund wurden sie schnell zur richtungsweisenden<br />
Kraft unter den Solidaritätsgruppen.<br />
2. Die politischen Neugründungen wie GSE,<br />
EPOG und „OIKOSEINE WELT". In diesen<br />
Vereinen organisierten sich vor allem Menschen,<br />
die über ein bestimmtes entwicklungspolitisches<br />
Wissen verfügten, das sie durch ihre<br />
Tätigkeit in den staatsoffiziellen Entwicklungsorganisationen<br />
der DDR (Außenhandelsbetriebe,<br />
FDJ-Solidaritätsbrigaden, Wissenschaftseinrichtungen,<br />
Institute zur Fortbildung von Ausländern<br />
etc.) erworben hatten. Zwar konnten<br />
sie ihren Sachverstand in die neugegründeten<br />
Organisationen einfließen lassen, jedoch kam<br />
dieser in den Jahren 1989/90 noch nicht zum<br />
tragen. Die Gründe sind in der durch die Wende<br />
ausgelösten Verunsicherung bei den mit der<br />
früheren SED liierten Personen zu suchen. Konkret<br />
manifestierte sich dieses Dilemma auf unterschiedlichen<br />
Ebenen:<br />
- als Verunsicherung, die aus der Konfrontation<br />
mit basisorientierten Arbeitsweisen resultierten;<br />
- als „politischer" Druck, weil sie dem Vorwurf<br />
ausgesetzt w aren, tatsächliche oder vermeintliche<br />
„Wendehälse" zu sein;