Vollversion (6.51 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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FORSCHUNGSJOURNAL NSB 3/94 55<br />
die Erschließung neuer Politikfelder (Lobbying)<br />
kompensiert werden. Daß diejenigen, die<br />
die Solidaritätsarbeit als „Wartesaal" für Umwälzungen<br />
im eigenen Land betrachtet hatten,<br />
in der Wendezeit die Solidaritätsarbeit aufgaben<br />
und sich anderen Handlungsfeldern zuwandten,<br />
blieb eine Ausnahme. Die Gruppen<br />
nutzten die neuen Bedingungen für eine gezielte<br />
Stärkung der Solidaritätsarbeit. Es ist<br />
vor allem den schon vor 1989 existierenden<br />
Gruppen zu verdanken, daß die neuen Handlungsmöglichkeiten,<br />
die sich nach der Wende<br />
eröffneten, genutzt wurden. Durch die Existenz<br />
von Organisationsstrukturen wie INKOTA<br />
konnte ohne Einbrüche eine Neuformierung<br />
der Solidaritätsgruppen eingeleitet werden. Mit<br />
dieser Umstrukturierung konnte inhaltlich<br />
schnell an das Themenspektrum der westdeutschen<br />
Dritte-Welt-Bewegung angeknüpft<br />
werden. Bereits 1990 bekannten sich die meisten<br />
Gruppen und Organisationen zu den Prämissen<br />
der „Eine-Welt-Idee" als Grundlage von<br />
Theorie und praktischer Arbeit. Konkret orientierte<br />
man sich an den Arbeiten des „Club of<br />
Rome", dem „Brundtland-Report" sowie am<br />
Konzept der „nachhaltigen Entwicklung". Damit<br />
kommt auch der Wunsch zum Ausdruck,<br />
nicht Sekte, sondern eine Bewegung zu sein,<br />
die Einfluß auf die eigene Gesellschaft, die<br />
Politik, die Wirtschaft, die Bildung, die Kultur<br />
und die Konsumgewohnheiten nehmen will.<br />
Das Interesse sollte nicht mehr allein auf das<br />
Engagement in und für die Entwicklungsländer,<br />
sondern auf eine „Entwicklungspolitik für<br />
den Norden", also auf einen Umbau der eigenen<br />
Gesellschaft ausgerichtet sein.<br />
Die organisatorische Festigung und stärkere<br />
gesellschaftliche Akzeptanz der ostdeutschen<br />
Solidaritätsbewegung führte auch sehr bald zur<br />
finanziellen Förderung durch den Staat. Die<br />
Mobilisierung finanzieller Ressourcen durch<br />
staatliche Quellen wirkte in zweifacher Hinsicht<br />
auf die Entwicklung der Bewegung ein.<br />
Auf der einen Seite wurden die neu entstandenen<br />
NRO für Fachkräfte interessant, die ihr<br />
Expertenwissen in die Organisation einspeisen<br />
konnten. Auf der anderen Seite wuchs aber<br />
auch die Gefahr, durch die Staatsgelder in neue<br />
Abhängigkeiten (Wohlverhalten statt Opposition)<br />
zu geraten.<br />
3. Wende-Illusionen<br />
Für viele in den Solidaritätsgruppen Engagierte<br />
war das im Frühjahr 1990 in der Ex-DDR<br />
Erreichte Anlaß zu dem Glauben, man könne<br />
großen Einfluß auf die eigene Gesellschaft im<br />
Sinne von veränderten Lebens-, Produktionsund<br />
Konsumtionsmodellen nehmen. Auch<br />
glaubte man, die Neudefinition der Rolle<br />
Deutschlands in der Welt nach dem Ende des<br />
traditionellen Ost-West-Konfliktes beeinflussen<br />
zu können. Diese Einschätzung stellte sich allerdings<br />
schnell als Illusion heraus. Die allgemeine<br />
Wende-Euphorie lenkte von der Tatsache<br />
ab, daß die relativ starke Rolle der Solidaritätsgruppen<br />
einer historischen Ausnahmesituation<br />
geschuldet war, die spätestens mit dem<br />
Beitritt der DDR zur BRD enden würde. Aufgrund<br />
der Übergangssituation, in der sich die<br />
DDR befand, entstand ein Freiraum, der - augenscheinlich<br />
jedenfalls - nicht von juristischen<br />
und bürokratischen Strukturen überformt wurde.<br />
Daß mit dem Beitritt nach Artikel 23 des<br />
Grundgesetzes dieses Vakuum beendet sein<br />
würde, konnte vermutet werden, wurde aber in<br />
der praktischen Arbeit weitgehend ignoriert<br />
bzw. verdrängt. Verstärkt wurden die Illusionen<br />
des politischen Freiraums noch durch die<br />
relativ großzügigen Finanzmittel, die die letzte<br />
DDR-Regierung den Gruppen zukommen<br />
ließ. Die Großzügigkeit betraf die Vergabekriterien<br />
und das Finanzvolumen. Die Euphorie<br />
ergriff aber auch Teile der westdeutschen Solidaritätsbewegung.<br />
Mit Blick auf die Handlungsspielräume,<br />
die sich für die Akteure in<br />
der DDR eröffneten, sah manche(r) Aktivistin