Vollversion (6.51 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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24 FORSCHUNGSJOURNAL NSB 3/94<br />
tionalen Projektionen und diskriminierenden<br />
Vorurteilen. Auch Konzepte einer weltweiten<br />
nachhaltigen Entwicklung enthalten in aller<br />
Regel die Forderung nach einem Stop oder<br />
einer Begrenzung des Bevölkerungswachstums<br />
mit der zumindest impliziten Folgerung, neben<br />
Überzeugungsarbeit müßten - etwa nach<br />
dem Vorbild Singapurs oder der VR China -<br />
auch harte administrative Maßnahmen treten.<br />
Persönlichste Entscheidungen werden reduziert<br />
auf das Erreichen oder Verfehlen volkswirtschaftlicher<br />
Gleichgewichtszustände (vgl. Mertens<br />
1988, S. 42ff). Als adäquate Gegenmittel<br />
gegen ein „exzessives" (oder „unzureichendes")<br />
Bevölkerungswachstum erscheinen dann sozial-<br />
und vor allem medizin-technologische<br />
Maßnahmen, die oft weniger auf das generative<br />
Verhalten als auf die generative Fähigkeit<br />
der Menschen abzielen oder ihr Verhalten durch<br />
unverhohlenen Zwang zu beeinflussen suchen.<br />
Mit wenigen Ausnahmen müssen diese Konzepte<br />
heute als gescheitert angesehen werden;<br />
dieses Scheitern ist wesentlich darauf zurückzuführen,<br />
daß hier die komplexen Zusammenhänge<br />
ignoriert wurden und werden, die gesellschaftliche<br />
Reproduktion und nicht zuletzt ihren<br />
generativen Aspekt konstituieren. Gerade<br />
in vielen Teilen der „Dritten Welt" hat der Umbruch<br />
zur Moderne Verhältnisse geschaffen,<br />
unter denen es durchaus „rational" ist, viele<br />
Kinder zur Sicherung des eigenen langfristigen<br />
Überlebens und darüber hinaus zur transgenerationalen<br />
Absicherung der Verwandtschaftsgruppe<br />
zu haben (vgl. dies. 1991, bes. S. 116ff;<br />
auch Thompson 1992, S. 348ff).<br />
Gewiß verschärfen wenigstens unter den gegenwärtigen<br />
Bedingungen steigende Bevölkerungszahlen<br />
die ökonomische, aber auch die<br />
Umweltkrise; doch ist die Bevölkerungsentwicklung<br />
nicht einfach Moment, sondern in<br />
erster Linie Ausdruck der globalen Krise<br />
menschlicher Reproduktion, die durch die unterschiedlichen<br />
Formen des Übergangs zur ge<br />
sellschaftlichen Moderne wesentlich verursacht<br />
ist. Dies zeigt sich an den Formen sozialer<br />
Sicherung. In den heute industriekapitalistisch<br />
entwickelten Gesellschaften wurden als Ergebnis<br />
langer sozialer Kämpfe die zerstörten gemeinschaftlichen,<br />
auf unmittelbarer Reziprozität<br />
beruhenden Sicherungssysteme ersetzt<br />
durch staatlich administrierte Solidarfonds und<br />
ein begrenztes Maß an staatlich geregelter<br />
Redistribution. Für die übergroße Mehrheit in<br />
den Kemgesellschaften waren ein Jahrhundert<br />
lang die zentralen Risiken von Arbeitslosigkeit,<br />
Krankheit und Alter nicht mit einem Sturz<br />
ins Bodenlose verbunden, ungeachtet der Stigmatisierung,<br />
mit der die Inanspruchnahme der<br />
Solidarfonds immer verbunden blieb (vgl.<br />
Schiel 1988b, 1992; Burawoy 1985). Die aktuelle<br />
Auseinandersetzung um Deregulierung<br />
und „Lohnnebenkosten" bezieht daraus ihre<br />
gesellschaftlich-strategische Relevanz.<br />
In postkolonialen Gesellschaften hat sich die<br />
Frage immer ganz anders gestellt. Die Bindung<br />
staatlich administrierter Sicherungssysteme<br />
an formalisierte Lohnverhältnisse bewirkte<br />
hier zumeist nicht die Verallgemeinerung, sondern<br />
die enge Begrenzung formaler Redistributionsformen.<br />
Das Aufbrechen älterer Formen<br />
der Sicherung und der damit verbundene Rückfall<br />
auf wesentlich kleinere Solidargemeinschaften<br />
legt nun gerade „Kinder als Überlebensstrategie"<br />
(Mertens 1991, S. 121ff) nahe.<br />
Die Verelendung breiter Schichten und die<br />
Abdrängung selbst von Mehrheiten in den informellen<br />
Sektor oder in eine verelendete ländliche<br />
Subsistenzproduktion setzen Prämien auf<br />
die Erweiterung der Familienarbeitskraft und<br />
die Vervielfältigung unterschiedlichster Erwerbschancen;<br />
eigene Nachkommen sind zugleich<br />
die einzige halbwegs zuverlässige Alterssicherung.<br />
Auch die häufig als so bedrohlich<br />
empfundene Bevölkerungsentwicklung erweist<br />
sich so als Teilaspekt einer globalen Gesellschaftskrise,<br />
die sich freilich in unterschied-