Vollversion (6.51 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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96 FORSCHUNGSJOURNAL NSB 3/94<br />
freien. Es geht dabei nicht um das Recht, Kinder<br />
zu haben oder keine zu haben. Die Forderung<br />
umfasst bloß, keine Kinder haben zu dürfen."<br />
8<br />
In eine ähnliche Richtung geht die Kritik der<br />
in Deutschland lebenden Inderin Shalini Randeria,<br />
wenn sie Befürworterinnen wie Gegnerinnen<br />
von Bevölkerungskontrolle eine utilitaristische<br />
Doppelmoral nachweist. Sie macht<br />
darauf aufmerksam, daß im entwicklungspolitischen<br />
Diskurs von der Annahme ausgegangen<br />
wird, Menschen würden in bezug auf Kinder<br />
Kosten und Nutzen gegenüberstellend abwägen.<br />
Viele Kinder zu haben sei demnach<br />
irrational, und Kinderreichtum würde als die<br />
Ursache für Armut und Unterentwicklung angesehen.<br />
Auch die Gegenargumentation basiert<br />
nach Shalini Randeria auf dem gleichen Prinzip,<br />
indem diese Kausalität umgekehrt und postuliert<br />
wird, daß es gerade für die Armen rational<br />
sei, viele Kinder zu haben, da sie zum<br />
Familieneinkommen und zur Altersversorgung<br />
beitragen. „Beiden Vorstellungen ist die utilitaristische<br />
Denkweise gemeinsam, wonach die<br />
einzige Art rational zu sein darin besteht, Kosten<br />
und Nutzen oder auch „reale" Vorteile zu<br />
kalkulieren. Aber genau wie im Norden sind<br />
Kinder auch im Süden nicht nur Arbeitskraft<br />
oder Altersfürsorge und somit Ersatz für fehlenden<br />
Sozialstaat. Sie darauf zu reduzieren<br />
bedeutet, emotionale Gründe fürs Kinderkriegen<br />
nur den Frauen in den Industrieländern als<br />
Privileg zuzugestehen, während den Frauen des<br />
Südens solche Motive abgesprochen werden.<br />
(...) Dabei wird der Wunsch der Frauen im<br />
Süden nach Verhütungsmitteln umstandslos<br />
gleichgesetzt mit einem Bedürfnis nach Kleinfamilien."<br />
9<br />
Während diese Differenzen von beiden Seiten<br />
möglicherweise als hilfreich und der weiteren<br />
Vertiefung des Themas dienlich empfunden<br />
werden, zeichnet sich an anderer Stelle ein<br />
sehr viel grundlegenderer Konflikt ab. Hierbei<br />
geht es um die Frage, ob es eine „feministische<br />
Bevölkerungspolitik" geben kann. Schon<br />
auf dem Global Forum im Rahmen der UN-<br />
Konferenz für Umwelt und Entwicklung<br />
UNCED 1992 in Rio konnte nur mühsam eine<br />
gemeinsame Frauenposition zu Bevölkerung,<br />
Umwelt und Entwicklung verabschiedet werden.<br />
Mehrere der dort anwesenden Frauen erarbeiteten<br />
kurze Zeit später zusammen mit der<br />
International Women's Health Coalition eine<br />
Erklärung „Women's Voices - Women's Declaration<br />
on Population Policies" mit dem Ziel,<br />
sich positiv in den Vorbereitungsprozeß für die<br />
Weltbevölkerungskonferenz in Kairo einzuschalten.<br />
Die Erklärung wurde sehr schnell von<br />
über 100 Organisationen und sehr vielen Einzelpersönlichkeiten<br />
auf sämtlichen Kontinenten<br />
unterzeichnet. 10<br />
Ausgehend von einem<br />
Selbstbestimmungsrecht von Frauen über ihren<br />
Körper und ihre Reproduktionsfähigkeit<br />
fordert die Erklärung eine grundsätzliche Reform<br />
des Konzepts, der Strukturen und der<br />
Durchführung von Bevölkerungspolitik mit<br />
dem Ziel des „empowerments" von Frauen.<br />
Dabei werden ethische Prinzipien formuliert,<br />
Mindestanforderungen an Programme und notwendige<br />
Bedingungen bezüglich Personalstruktur<br />
und Finanzierung, wobei mindestens 20%<br />
der vorhandenen Gelder Frauenorganisationen<br />
zur Verfügung gestellt werden sollen, um Gesundheitsprogramme<br />
durchzuführen. Diese Erklärung<br />
führte zu herber Kritik von Frauenseite.<br />
Die Schweizer Gruppe Antigena verfaßte<br />
z.B. ein Papier, das auch von mehreren bundesrepublikanischen<br />
Gruppen unterzeichnet<br />
wurde. Hauptvorwurf an Women's Voices ist<br />
das Fehlen einer grundsätzlichen Kritik an Bevölkerungspolitik,<br />
da diese per se „sexistisch,<br />
rassistisch und imperialistisch" sei. Darüber<br />
hinaus wird die Integration von Bevölkerungspolitik<br />
in Entwicklungspolitik bemängelt, das<br />
„Postulieren von fundamentalen ethischen Prinzipien,<br />
ohne diese in einen realen politischen