Vollversion (6.51 MB) - Forschungsjournal Soziale Bewegungen
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FORSCHUNGSJOURNAL NSB 3/94 91<br />
nen als Rechtfertigung und Grundlage für eine<br />
entsprechende Bevölkerungspolitik. Die Vereinten<br />
Nationen gehen meistens von der mittleren<br />
Annahme aus, nach der im Jahr 2025<br />
etwa 8,5 Milliarden Menschen auf der Erde<br />
leben werden. Diese statistischen Annahmen<br />
bilden den wissenschaftlichen Hintergrund für<br />
eine Debatte, in der unterschiedliche Interessen<br />
sich artikulieren und aufeinandertreffen.<br />
Die Argumente haben im Laufe der Jahre gewechselt,<br />
die Schlußfolgerungen - nämlich die<br />
Notwendigkeit, das Bevölkerungswachstum<br />
einzudämmen - sind gleich geblieben. Das<br />
Schüren von Angst durch den Hinweis auf eine<br />
Überfremdung oder Bedrohung unserer Zivilisation<br />
durch die Massen des Südens ist dabei<br />
immer ein wesentlicher Strang der Diskussion<br />
gewesen.<br />
Die ersten internationalen Familienplanungsund<br />
Sterilisationskampagnen entstanden aufgrund<br />
privatwirtschaftlicher Initiative, vor allem<br />
der Rockefeiler- und Ford-Foundation. In<br />
den 60er Jahren wurden sie von der US-Regierung<br />
und schließlich auch von internationalen<br />
Organisationen wie der UN fortgesetzt. Heute<br />
sind Bevölkerungskontrollprogramme Bestandteil<br />
nahezu jeglicher Entwicklungshilfe auf bilateraler<br />
und multilateraler Ebene. Bis Anfang<br />
der 70er Jahre war vorherrschende Meinung,<br />
die „Dritte Welt" müsse eine nachholende Entwicklung<br />
durchlaufen, um an Produktions- und<br />
Lebensstandard der Industrieländer anzuschließen.<br />
Bevölkerungsreduzierung galt dabei zunächst<br />
als Grundvoraussetzung, um diese „Modernisierung"<br />
zu erreichen. Auf der Weltbevölkerungskonferenz<br />
1974 in Bukarest zeigte<br />
sich jedoch, daß eine solche Sicht der Verhältnisse<br />
keinen internationalen Konsens darstellte.<br />
Während die Vertreter der Industrieländer,<br />
auf deren Initiative die Konferenz zustandegekommen<br />
war, in den hohen Geburtenraten in<br />
der Dritten Welt die Wurzel allen Übels sahen,<br />
bestritten die meisten Entwicklungsländer die<br />
Existenz eines „Bevölkerungsproblems", definiert<br />
als das Überschreiten bestimmter Wachstumsraten<br />
ohne Berücksichtigung einer sozialen<br />
Dimension. Sie verwiesen darauf, daß viele<br />
Kinder nicht unbedingt Armut verursachen,<br />
sondern im Gegenteil diese lindern können, da<br />
sie zum einen schon früh mitarbeiten und damit<br />
zur Existenzsicherung beitragen und zum<br />
anderen bei fehlender staatlicher Altersversorgung<br />
sich im Alter um die Eltern kümmern<br />
können. Der schließlich verabschiedete Weltbevölkerungsaktionsplan<br />
war ein Kompromiß<br />
zwischen den streitenden Parteien, in dem einerseits<br />
die Ausweitung der Geburtenkontrollprogramme,<br />
andererseits aber auch umfassende<br />
sozialpolitische Maßnahmen empfohlen<br />
wurden. Entwicklung wurde als Beitrag zur<br />
Senkung der Geburtenrate begriffen. „Entwicklung<br />
ist die beste Pille" hieß der Slogan, unter<br />
dem das daraus resultierende Politikprogramm<br />
bekannt wurde.<br />
Zehn Jahre später, auf der Weltbevölkerungskonferenz<br />
in Mexiko, waren die Stimmen verstummt,<br />
die sich dagegen ausgesprochen hatten,<br />
das Bevölkerungswachstum als Haupthindernis<br />
für die Entwicklung zu begreifen. In<br />
90% aller in der UN versammelten Länder der<br />
Dritten Welt hatten sich inzwischen Institutionen<br />
des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen<br />
UNFPA etabliert und Familienplanungsprogramme<br />
durchgeführt. Mit der Anerkennung<br />
der komplexen gesellschaftlichen Faktoren, die<br />
an der Entscheidung über die Verwirklichung<br />
von Kinderwünschen beteiligt sind und mit<br />
den Anstrengungen, die Motivation zur Familienplanung<br />
zu erhöhen, rückte die Situation<br />
der Frauen als bevölkerungspolitische Zielgruppe<br />
zunehmend ins Blickfeld: Wenn - wie Anfang<br />
der 70er Jahre formuliert - die Befriedigung<br />
der Grundbedürfnisse zur Reduzierung<br />
der Geburtenrate und zur Verbesserung der Lebenssituation<br />
führe, dann müsse besonders der<br />
Status der Frauen angehoben werden, zumal