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Herangehen, das empirische Erhebungen und Analysen ignoriert. So findet das<br />

reale Leben von Krankenschwestern, Lehrerinnen, Sekretärinnen etc. keine Erwähnung,<br />

während sie viel von den Intellektuellen (und v. a. von sich selbst)<br />

spricht.<br />

Zudem hat man oftmals das Gefühl, sie unterliege derart allgemeinen Vorurteilen,<br />

dass sie niemals wirklich unrecht hat. In ihrer Schrift liefert sie keine Theorie<br />

der Beziehung der Frauen zu dem, was sie tun, zu ihren konkreten, durch objektive<br />

Faktoren bestimmten Existenzbedingungen, sondern Hypothesen über Gewöhnung,<br />

Dressur, Mystifikation. Abgesehen davon, dass ihre bekannte Formulierung<br />

»Man wird nicht als Frau geboren, man wird es«, wenngleich sie Wesentliches<br />

verdichtet, doch nicht nur auf die Frauen zutrifft, sondern ebenso auf die Männer,<br />

also auf die Menschheit insgesamt.<br />

In der existenzialistischen Philosophie werden die Situation, die Lage der Essenz<br />

entgegengesetzt, was die für die Philosophie zentrale Debatte über die Antinomie<br />

Natur – Kultur entfacht. Beauvoir war die Erste, die in diese Debatte die<br />

Frauenfrage einbezog, womit sie ein neues Feld aufmachte. Indes hat sie die Denaturalisierung<br />

nicht eingeführt: Diese gehört zu den Fundamenten der Sozialwissenschaften,<br />

die ihr vorhergingen. Hier seien die Arbeiten von Emile Durkheim<br />

und Marcel Mauss erwähnt, insbesondere diejenigen über die Sozialisation der<br />

Körper. Darüber hinaus erweist sich die durch Beauvoir praktizierte Denaturalisierung<br />

als unvollständig, insofern sich die Autorin an der Schwierigkeit stößt,<br />

ausgehend von einer Philosophie der Freiheit die Menschen als zugleich durch soziale<br />

Bedingungen determinierte und unterschiedlich auf die Einnahme der oder<br />

der Position vorbereitete Wesen zu verstehen.<br />

Daher der erstaunliche Kontrast zwischen der Dürftigkeit der durch sie zur<br />

Verfügung gestellten Instrumente, die Herrschaft über die Frauen zu denken, einerseits,<br />

und der Fülle der durch sie ermöglichten Fortschritte in der Frauenforschung<br />

und den praktischen Kämpfen der Frauen andererseits. In der Tat ist die<br />

Frage, ob Beauvoir ihre beherrschende Stellung nicht vielmehr ihrem Status als<br />

großer Intellektueller denn dem Inhalt von »Das andere Geschlecht« verdankt.<br />

Noch genauer: Das soziale Kapital Beauvoirs (und dasjenige Sartres) ließ(en)<br />

»Das andere Geschlecht« zu einer Symbolbank werden, die es vermochte, zahlreiche<br />

Frauen um eine wenig konsistente Theorie herum zu versammeln.<br />

Das Buch ist von Ambivalenz gezeichnet. Auf der einen Seite wagt es eine mit<br />

dem damals vorherrschenden Existenzialismus verbundene Philosophin, sich einem<br />

Thema ohne theoretisches Prestige zu widmen – dem weiblichen Wesen –,<br />

einem Thema, das die Aufmerksamkeit der fortschrittlichen Intellektuellen weitaus<br />

weniger auf sich zog als etwa der Kolonialismus, der Kommunismus oder der<br />

Marxismus; auf der anderen Seite begnügt sie sich im Wesentlichen damit, sich<br />

auf ihre literarische und philosophische Kultur zu berufen.<br />

Dennoch bleibt: Das zum Reflektieren auffordernde Werk »Das andere Geschlecht«<br />

hat anderen Forschungen den Weg eröffnet.<br />

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