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Und dann, 1975, waren wir »Historikerinnen«. Wenn Simone de Beauvoir so<br />

die Gruppe »radikaler Feministinnen« bezeichnet, die an den Sartre-Sendungen<br />

teilnahm, so ist das nichts Außergewöhnliches. Alle jungen militanten Philosophen<br />

wurden als »Historiker« taxiert, als es sich darum handelte, zu diesem Projekt von<br />

Fernsehsendungen beizutragen, die nie das Licht der Welt erblickten. Der ORTF<br />

hatte Sartre eine biographische Sendung vorgeschlagen, und dieser hatte geantwortet,<br />

dass es sich um eine kollektive Geschichte handeln würde, und zwar um diejenige<br />

der Kämpfe. Auf diese Weise entwickelten die Frauen ein Verhältnis zur Geschichte,<br />

die wiederum andere Widersprüche ans Licht brachte als diejenigen<br />

des/der Intellektuellen. Die Arbeit daran begannen einige von uns im Jahre 1973.<br />

Im Sommer 1972 hatte ich in der Rubrik »lost woman« des amerikanischen feministischen<br />

Magazins »Ms« von der Existenz der Bibliothek Marguerite Durand erfahren.<br />

Ich ging dorthin, am Tag nach einer verpatzten mündlichen Agrégation. Die<br />

Vergangenheit der Frauen aufzudecken war eine durch die Frauenbefreiungsbewegung<br />

provozierte Notwendigkeit. Die Seiten der Tageszeitung »La Voix des femmes«<br />

aus der Zeit der Revolution von 1848 umzublättern ließ die Abwesenheit der<br />

feministischen Bewegung im Mai 68 noch erstaunlicher werden. 1975 schließlich<br />

waren wir bereit, dem Widerspruch ins Auge zu sehen. Wir förderten die Unfähigkeit<br />

der vergangenen und gegenwärtigen Revolutionäre ans Licht, die feministische<br />

Kritik zu akzeptieren. Ob es sich um die freie Liebe zur Zeit der Revolution<br />

handelte, um den Pazifismus angesichts des drohenden Krieges, die soziale Funktion<br />

der Mutterschaft in Zeiten der Wiederbevölkerung – wir waren verpflichtet, es<br />

gibt kein anderes Wort, aufzuzeigen, in welchem Maße die Frauenfrage ebenso<br />

sehr mit der Arbeiterbewegung kollidierte wie mit der libertären Linken. Schon die<br />

Saint-Simonistinnen hatten in den 1830er Jahren vorgeführt, dass die Freiheit der<br />

Frauen gegen ihren Willen als Lizenz zur Verführung oder schöpferische Subversion<br />

interpretiert wurde, d. h. je nach dem Willen ihrer Gesprächspartner; ob nun in<br />

moralistischem oder in libertärem Sinne gedeutet, das Argument wurde schonungslos<br />

gegen sie ausgespielt. Heute ist der Widerspruch immer noch der gleiche.<br />

Ich experimentiere damit erneut, und zwar in der Diskussion um das Argument der<br />

»Zustimmung« (»consentement«) als Bedingung des Politischen. Ja zu einer Stellung<br />

zu sagen, die mit dem Geschlecht verbunden ist (zum Tragen des Schleiers<br />

ebenso wie zur Sexarbeit), oder nein zu einer geschlechtlichen Hierarchie zu sagen<br />

(zum Adjektiv »zustimmend« (»consentante«) heißt es immer noch in einigen<br />

Wörterbüchern: »sagt man nur von Frauen«) – ja oder nein zu sagen hat einen politischen<br />

Gehalt, den die Verfechter der individuellen Moral als einzigem Horizont<br />

ignorieren möchten. 7 Noch heute interessiert mich die komplizierte Aufgabe, die<br />

sexuelle Freiheit und die Gleichheit der Geschlechter zusammenzuhalten, viel<br />

mehr als jede polemische Vereinfachung: Die libertäre Norm kann genau so arm<br />

sein wie die konservative Norm.<br />

7 Geneviève Fraisse: Du consentement. Paris 2007.<br />

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