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Der von den Deutschen technisch verwaltete Massenmord in den Vernichtungslagern<br />

und die Verbrechen der Kriegsfeldzüge wurden in Deutschland über<br />

mehrere Generationen perfekt vertuscht. Das Sterben der Anderen und die Möglichkeit<br />

des eigenen Todes nicht wahrzunehmen, wurde in den 1950er Jahren, wie<br />

der Kulturtheoretiker Thomas Macho unlängst 10 beschrieb, regelrecht trainiert.<br />

Das war in Frankreich anders.<br />

Auch war die existentialistische Philosophie in Bezug auf das Thematisieren<br />

des Todes in den 1950er Jahren eine Art theoretischer Tabubrecher, wenngleich in<br />

ganz unterschiedlichen und teilweise sehr gegensätzlichen Ausformulierungen<br />

(man denke nur an Heidegger, Gabriel, Jaspers, Sartre und eben auch Beauvoir).<br />

Ab den 1970er Jahren kann man dann nicht mehr von der Tabuisierung des Todes<br />

sprechen, es machte sich vielmehr, so Macho, und man kann das auch an den medialen<br />

Inszenierungen in Serien, Filmen, Kunst, Publikationen und den Änderungen<br />

in der Bestattungskultur usw. sehen, eine öffentliche Geschwätzigkeit breit.<br />

Was allerdings weiterhin ausgeschlossen blieb und bleibt, das ist die konkrete<br />

und nicht mediale, die nahe, erschreckende, fremde Materialität des Sterbens, des<br />

toten Körpers. Hier sind klare Parallelen zum Alter zu sehen. Einerseits werden<br />

die Über-65-Jährigen heute viel länger und gesünder alt: Sie verfügen, zumindest<br />

zum Teil, über große Ressourcen – das Alter scheint, wie Beauvoir es noch als<br />

Utopie einer gerechteren Gesellschaft am Ende von »Das Alter« entwarf, nicht<br />

mehr da zu sein. Aber das letzte Lebensalter, das nach dem der »best-agers«<br />

kommt, wird in seiner körperlichen Gebrechlichkeit und eben erschreckenden<br />

Materialität mitsamt den Erfahrungen genauso verdrängt und in Institutionen abgeschoben<br />

wie früher das Alter.<br />

Genau um diese beängstigenden Erfahrungen der Materialität des Körpers, seiner<br />

Schmerzen und des nahenden Sterbens geht es Beauvoir in ihren Berichten<br />

über den Tod der Mutter und denjenigen Sartres. Für den ersten wurde sie sehr gelobt,<br />

für die distanzierte Kälte des zweiten scharf kritisiert.<br />

Die theoretische Verabschiedung der Frage nach der geschichtlichen Existenz<br />

als sich entwerfende (zerrissene, scheiternde, endliche, ängstliche, nach Sinn strebende)<br />

Freiheit ab den 1960 Jahren in der Philosophie war für Beauvoir ein ethischer,<br />

logischer und auch ein politischer Skandal.<br />

Die kontinuierliche Thematisierung der Unterdrückung von der Freiheit aus<br />

und die kontinuierliche Thematisierung der Metaphern des Todes sind Schlüssel<br />

zum Werk Beauvoirs. Die durchaus aktuelle und im Sinne ihres rhetorisch inszenierten<br />

Dialogs mit den heutigen Leserinnen bestürzende ethische Aufforderung<br />

ist die der identifizierenden Beschäftigung mit dem, was heute Altern ausmacht,<br />

was Todesmetaphern sind, wie das reale Sterben abläuft, was mit den Körpern geschieht,<br />

welches Alter, welches Sterben, welche Todesmetaphern zu Normen der<br />

Lebenden werden. Die Norm der Vermeidung der Angst vor dem Tod war und ist<br />

10 Thomas Macho: Endlich. Tod – kein Tabu mehr. In: taz Journal, 02/2007.<br />

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