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gungen andererseits. Beauvoir übernimmt die soziale Definition ihrer Zeit, indem<br />

sie als »die Alten« die über 65-Jährigen, also aus dem Berufsleben Ausgeschiedenen<br />

bezeichnet, denn das war die Situation der alten Menschen Anfang der 1970er<br />

Jahre in Frankreich. Aus dieser konnte man ebenso wenig herausspringen, bzw.<br />

sie leugnen, ohne unwahrhaftig zu sein, wie aus dem Geschlecht.<br />

An der Stelle, an der in »Das andere Geschlecht« das Zitat der feministischen<br />

Theorie und Bewegung steht, der erste Satz des 2. Buches, der, wie zu Anfang erwähnt,<br />

unsinnigerweise in vielen Vergleichen mit dem Altersbuch einfach durch die<br />

Ersetzung von Frau durch alt verändert wird, findet sich in »Das Alter« der Satz:<br />

»Vorzeitig sterben oder altern – eine andere Wahl haben wir nicht« (DA, S. 240).<br />

Altern – das prozesshafte Verändern in der zeitlichen Verkörperung unserer<br />

Existenz – ist etwas, dem wir, nicht das unpersönliche man des »on le devient«,<br />

nicht ausweichen können, es sei denn um den Preis des Sterbens. Altern ist unausweichlich.<br />

Zeit und Verzeitlichung ist das nicht Realisierbare, das das In-der-<br />

Welt-sein ins Verhältnis setzt zur Geschichte und zum Körper. Altern ist das radikal<br />

Grundlose, nicht Verstehbare der Existenz, ist radikale, grundlose, endlose,<br />

anhäufende Vergangenheit, anhäufende Endlichkeit, Faktizität, deren einzige Alternative<br />

die (vorzeitige) Annahme der Sterblichkeit ist, Sterblichkeit, die allerdings<br />

nur hinausgezögert werden kann. Subjektive Endlichkeit, die mit jeder<br />

Wahl notwendig verbunden ist, ist nicht gleich Sterblichkeit, aber sie geht jenseits<br />

der Erfahrbarkeit in diese über.<br />

Altern und Sterben sind somit in einer negativen Beziehung über die Zeitlichkeit<br />

miteinander verbunden, die die Struktur der Freiheit, der Existenz ist. Das<br />

Sterben ist eine Grenze der Situation und als eigenes nicht verstehbar; es ist das<br />

notwendig immer imaginierte Ende des Alterns. Das Alter hingegen, als beklagenswerter<br />

Zustand und als eine von einer inhumanen Gesellschaft durch vielfältige<br />

Strukturen fixierte Situation alter Menschen, so der erste Satz von Beauvoirs<br />

»Schlussfolgerung« (DA, S. 463), »ist kein notwendiger Abschluss der Existenz«.<br />

Wie unverstanden die Bedeutung dieser zentralen Unterscheidung von Alter und<br />

Altern bei Beauvoir in der Rezeption ihrer Thesen war und oft noch ist, zeigt am<br />

deutlichsten der gravierende Fehler der deutschen Übersetzung an dieser Stelle:<br />

im französischen Original steht »La vieillesse n'est pas une conclusion nécessaire<br />

de l'existence humaine« (II, 393), und im deutschen Text ist hier aus »la vieillesse«<br />

»le viellissement«, aus »Alter« »Altern« geworden. »Das Altern ist nicht<br />

ein notwendiger Abschluss der menschlichen Existenz.« – Welch ein sprachlicher<br />

und logischer Unsinn!<br />

Befreiung vom Alter – eine realistische Utopie ethisch reflektierten Alterns in<br />

der Gesellschaft, der 1970er Jahre wie auch heute?<br />

Worin besteht das Problem des Alters? Warum werden, in einem Akt der mauvaise<br />

foi, Alter und Altern von den meisten Menschen verdrängt? Was genau ist<br />

das nicht Realisierbare des Alterns für die Existenz, das diese Verdrängung unterstützt?<br />

Was das Beängstigende?<br />

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