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sonderen Spielart von weiblicher Unterwerfung klingen. Doch diese Anwandlung<br />
wird dadurch relativiert, dass Beauvoir bereits einen Monat später mit großem<br />
Selbstbewusstsein zum Ausdruck bringt, dass sie die wichtigsten Schritte ihrer<br />
Selbstwerdung schon vor der Beziehung zu Sartre getan hat. So schreibt sie in<br />
ihrem Resümee des vergangenen Vierteljahrs: »Ich lerne, dass ich zur Frau bestimmt<br />
bin und dass ich gerade dieses liebe. Ich lerne, was Denken ist, was ein<br />
großer Mann ist, was die Welt ist. Ich befreie mich von allen alten religiösen und<br />
moralischen Vorurteilen, von den falschen Instinkten. Ich lerne die vollkommene<br />
Aufrichtigkeit, die Freiheit zu denken und das eigene Denken mit dem Geist, dem<br />
Herzen und dem Körper zu leben! Ungeheure Offenbarungen – aber kein Umsturz,<br />
denn alles war vorbereitet.« 52<br />
Das Tagebuch offenbart Beauvoirs ambivalentes Verhältnis zur Ehe: Anfangs<br />
malt sie sich durchaus noch eine Ehe mit dem reichen Bürgersohn Jacques aus.<br />
Sogar Kinder kann sie sich vorstellen, allerdings mehr aus einem narzisstischen<br />
Bedürfnis heraus: »Ich möchte kein Leben in Glanz, aber Liebe, ein paar schöne<br />
Bücher und ein paar schöne Kinder, mit Freunden, denen ich meine Bücher widmen<br />
kann, und die meinen Kindern Poesie und Denken beibringen.« 53<br />
In schwachen Stunden 54 verspürt sie durchaus das Bedürfnis nach dem sicheren<br />
Hafen der Ehe: Zuflucht, Geborgenheit, Endgültigkeit, freiwillige Abdankung, ruhige<br />
Gewissheit, Unterwerfung der Frau unter den Mann. Doch zugleich erkennt<br />
sie den Widerspruch zu ihrem ureigenen Unabhängigkeits- und Einsamkeitsbedürfnis:<br />
»In mir ist ein zügelloser Wunsch nach Freiheit, Abenteuer, Geschichten,<br />
Reisen, anderen Menschen; ein Wunsch, alle Türen offen zu halten, alles zu empfangen,<br />
mich allem hinzugeben, eine Ablehnung jeglicher Bindung, eine Furcht<br />
vor der Ehe, die in mir aus dem tiefsten Innern wieder aufsteigt.« 55<br />
Der ganze Bereich des Erotisch-Sexuellen stellte für Beauvoir anfangs einen<br />
schwarzen Kontinent dar. Es war ihr keineswegs in die Wiege gelegt, dass die Katholische<br />
Kirche ihren Essay einmal wegen angeblicher Pornographie auf den Index<br />
setzen würde. Im Mai 1929 fragt sie sich noch, ob sie vielleicht »ein Stück<br />
Holz« sei, »das nicht einmal den Wunsch nach einem Kuss« 56 verspürt habe.<br />
Nachdem Sartre mit Macht ihr sinnliches Erwachen ausgelöst hat, reflektiert<br />
sie jedoch bald ihr ungestilltes Verlangen. Dafür war vor allem Sartres mangelnde<br />
Begabung für die körperliche Liebe verantwortlich, seine Unfähigkeit zu rückhaltloser<br />
Hingabe, über die er sich selbst später freimütig äußerte. 57 Zwischen den<br />
Zeilen des Tagebuchs kann man lesen, dass Beauvoir trotz ihres großen Glücksge-<br />
52 Ebd., 12. September 1929, S. 767.<br />
53 Ebd., 13. Mai 1929, S. 650.<br />
54 Vgl. ebd., 22. Mai 1929, S. 660 und 3. November 1929, S. 817.<br />
55 Ebd., 21. September 1929, S. 784-785.<br />
56 Ebd., 8. Mai 1929, S. 643.<br />
57 Siehe dazu das Gespräch Sartres mit Beauvoir, Sommer 1974, in Simone de Beauvoir: La Cérémonie des adieux.<br />
Paris 1981, S. 385 und 400. – Simone de Beauvoir: Die Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul<br />
Sartre: August-September 1974. Reinbek bei Hamburg, Taschenbuchausgabe 1983, deutsch von Uli Aumüller<br />
und Eva Moldenhauer.<br />
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