Dokument 1.pdf - eDoc
Dokument 1.pdf - eDoc
Dokument 1.pdf - eDoc
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
logisch frei ist, wenn er in einer Situation völlig unfrei ist, wie Sartres Sklave in<br />
»Das Sein und das Nichts«, sondern darum, ob er dann – für sich – noch ein Mensch<br />
ist, ob ihm das ermöglicht wird. Lösen kann Beauvoir das Problem nicht, doch sei<br />
hier einem Missverständnis vorgebeugt: Es geht ihr nicht darum, einem Menschen,<br />
der seine Freiheit nicht verwirklicht, das Menschsein abzusprechen, vielmehr<br />
darum aufzuzeigen, wie Menschen das verunmöglicht wird. Das geht Hand in Hand<br />
mit ihrer Deutung des Kantischen kategorischen Imperativs in ihren Frühschriften,<br />
dem Anderen zu seiner Freiheit zu verhelfen, grundlegende Bedingung der eigenen<br />
Existenz/ Freiheit wie auch für die des Anderen. Gelöst hat sie das Problem im Bericht<br />
über das Sterben der Mutter: Sie beschreibt hier die Situation, in der sie der<br />
Mutter trotz einer Lüge (die Verheimlichung der tödlichen Krankheit) die Freiheit<br />
des Verhaltens, der Wahl, der Wertsetzung, der Sinngebung ermöglicht. Weil sie<br />
versucht, die begrenzte Welt der Mutter und auch ihre Angst, ihre Auflehnung gegen<br />
das Sterben zu teilen, lässt sie die Mutter nicht zu einer lebenden Toten werden. Sie<br />
stellt sich als Zeugin im Krankenhaus im Gespräch und nachträglich durch das<br />
Schreiben radikal auf die Seite der Freiheit der Mutter und macht damit eigene Alternserfahrungen,<br />
erfährt das dem Buch als Motto vorangestellte Zitat von Dylan<br />
Thomas »Brennen soll das Alter, wenn der Tag sich neigt«. Das Teilen scheitert notwendig.<br />
Schmerz und Sterben sind (unterschiedliche) Grenzsituationen, sie können<br />
bezeugt werden, aber nicht aufgehoben oder geteilt.<br />
In unserer heutigen Gesellschaft werden (sehr) alte Menschen nicht auf Altern<br />
als nicht endenden Prozess reduziert, das würde die beängstigende Identifikation<br />
der Anderen mit dem alten Menschen als eigene Gegenwart und Zukunft verlangen<br />
bzw. zur Folge haben, sondern auf einen unmenschlichen Zustand, von dem<br />
man selbst weit entfernt ist. Alter wird definiert.<br />
Demgegenüber beharrt Beauvoir darauf, dass sich Alter eben nicht definieren<br />
lässt und dass das verobjektivierende »Für-Andere-Sein« des Alters seinen Grund<br />
hat in den ökonomischen Bedingungen einer Gesellschaft, in starren Bildern und<br />
festgeschriebenen Situationen.<br />
Der negative Ton, den Beauvoir benutzt, wenn sie über die körperlichen Veränderungen<br />
des Alterns schreibt, basieren auf den von ihr zitierten schriftlich gefassten<br />
oder mündlich erzählten Erfahrungen. Wie schon in »Das andere Geschlecht«<br />
wurde ihr dieser negative Ton massiv vorgehalten und als körperfeindlich ausgelegt.<br />
Obschon sie die negativ empfundenen Veränderungen des alternden Körpers,<br />
die die Erfahrung der Zeitlichkeit des Einzelnen betreffen, für letztlich überhistorisch<br />
hält – der Teil, der eben das Altern ausmacht, ist das Alter als der geronnene<br />
und immer wieder naturalisierte Teil der Erfahrungen, historisch, kulturell, geschichtlich<br />
variabel, sozial-historisch und ökonomisch bedingt und damit kontingent<br />
und veränderbar.<br />
Die Basis des Altersbuches ist unverkennbar materialistischer als der metaphysische<br />
Konflikt zwischen dem Für-Sich-Sein und dem Für-Andere-Sein in den<br />
frühen Romanen, wie in »Sie kam und blieb«.<br />
92