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Wahrheit sagte […] man sagt sie nicht immer gleich, vielleicht Tage später, aber<br />
man sagt sie, immer, alles. Ich zumindest« 35 , war seine Antwort auf die Frage nach<br />
dem Stellenwert der Wahrheit in der Beziehung zu Beauvoir. Bemerkenswert ist<br />
hierauf die Antwort von Beauvoir: »wir sind Intellektuelle und wissen sehr genau<br />
[…] ob man es heute sagen muss oder Tage später, ob man taktieren muss […].<br />
Aber man kann nicht allen Paaren raten, sich immer brutal die Wahrheit zu sagen.<br />
Manchmal ist es so eine Art, mit der Wahrheit umzugehen, die zur aggressiven<br />
Waffe wird – Männer machen das oft. Es ist ein Glück, wenn man sich alles sagen<br />
kann, aber es ist kein Wert an sich.« 36<br />
War es ein Glück? Sartre konfrontierte Beauvoir mit einer Art »Jagdfieber«.<br />
»Er war unersättlich geworden. Fast jede Frau, mit der er Kontakt hatte, musste er<br />
haben.« In seinen Briefen finden sich detaillierte Beschreibungen, Empfindungen<br />
und Gefühle während des Zusammenseins mit anderen Frauen, die er mit Beteuerungen<br />
seiner Liebe für Beauvoir beendete. 37 Was fühlte Sartre, als er ihr all diese<br />
Briefe schrieb, und was glaubte er, würde Beauvoir fühlen, wenn sie seine Briefe<br />
las? Oder verschwand für beide diese Frage hinter ihren philosophischen Grundannahmen<br />
von unmittelbaren existenziellen Erfahrungen?<br />
Anders als in den rationalen Erklärungen ihrer Interviews kommt Beauvoir in<br />
ihren Büchern immer wieder auf das Thema der intellektuellen Frau zurück, die<br />
sich erotisch-theoretische Beziehungen wünscht und zugleich vor unkontrollierter<br />
Leidenschaft zurückweicht, nachvollziehbar bei der unerträglich qualvollen Darstellung<br />
eines wollüstigen Lächelns einer von Lust überwältigten Frau. Sie erträgt<br />
nicht die Darstellung von Lust, die ihr mit Sartre versagt bleibt, die sie für sich<br />
nicht zulassen kann, sondern die für sie zur unkontrollierten Gefahr und zu ungewollter<br />
Abhängigkeit wird. »Am schlimmsten ist es für Frauen, die das Unglück<br />
haben, Sexualität mit Männern so beglückend zu finden, dass sie mehr oder weniger<br />
abhängig von Männern werden. […] Im Namen der Liebe werden Frauen erniedrigt<br />
und ausgebeutet und lassen sich ausbeuten« 38 , erklärte sie im Interview<br />
mit Alice Schwarzer 1973. Ihr bleibt die Abwertung von sexueller Lust, die sich<br />
gegen die Rationalität ihrer Lebensweise stellt und einhergeht mit einer bereits in<br />
jungen Jahren empfundenen Körperfeindlichkeit. Diese zieht sich auch wie ein<br />
roter Faden durch »Das andere Geschlecht«.<br />
Aber auch sie muss ihre Emotionen und Gefühle verarbeiten, und sie verarbeitet<br />
sie, indem sie schreibt. »Das Begehren der Frau verwandelt den Körper des<br />
Mannes in Philosophie«, schreibt Toril Moi bezogen auf Beauvoir und zitiert damit<br />
Michèle Le Doeuff. Und die Philosophie Beauvoirs realisiert sich in der Produktion<br />
von einzigartiger Literatur als Zeugnis einer neuen lebensweltlichen<br />
Erfahrung. Beauvoir erweitert so ihren Pakt mit Sartre und vergesellschaftet ihn<br />
35 Ebenda, S. 50.<br />
36 Ebenda, S. 51.<br />
37 Deirdre Bair: Simone de Beauvoir, a. a. O., S. 254.<br />
38 Ebenda, S. 75.<br />
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